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An manchen Tagen fragte sie sich, weshalb sie eigentlich noch hier war. Warum sie nicht einfach aufgab.

Sich selbst aufgab - ihren Vater aufgab. Susi fragte sie sich, warum sie das auch nach Jahren noch tat. Warum sie jeden Tag hier war.
Die Leute lachten, wenn sie erfuhren, dass sie den ganzen Tag hier war. Hier bei ihrem Vater.
Auch sie musste manchmal lachen; sie wusste es ja selbst nicht einmal. Ihren Fehler machte sie damit schließlich auch nicht besser.

Sie war schuld.

Vielleicht wollte sie sich damit selbst bestrafen, indem sie jeden Tag zu sehen bekam, was sie verursacht hat. Die einen sagen unglücklicher Zufall, die anderen Schicksal, doch nichts davon stimmte. Es hätte nie soweit kommen müssen.

Der Brustkorb ihres Vaters senkte und hob sich gleichmäßig. Wachkoma. Irgendwas zwischen Leben und Tod. Zwischen wach und Schlaf.

'Es tut mir leid', dachte Susanne und griff nach ihrer schwarzen Tasche. Leise öffnete sie die Tür und rieb sich die Augen, als sich ihre Augen an den hell beleuchteten Flur gewöhnen mussten.
"Susanne?", fragte eine Stimme, die sie seit neun Jahren schon kannte.
Frau Kaup war eine Dame, die ihre besten Jahre schon hinter sich hatte. Trotz ihrer Strenge ist sich Susi sicher, dass sie in ihrem Inneren sicher einen weichen Kern hat. "Kommst du kurz in mein Büro?" Susanne nickte und folgte ihr den kurzen Weg in das Büro.

Dieses Pflegeheim hatte sich extra auf Wachkomapatienten spezialisiert. Sie sagten, dass die Leute alles um sich trotzdem hörten, und man deshalb möglichst oft bei ihnen sein sollte. Ob das wahr war, konnte Susi nicht sagen, doch sie hoffte, dass es irgendwas brachte.

"Setz' dich", forderte Frau Kaup sie auf. Susi richtete ihren Blick auf die Frau. "Also... Dein Vater wird morgen wieder in die Klinik gebracht, das haben wir ja schon letzte Woche besprochen. Dort wird dann wahrscheinlich ein EEG durchgeführt." Susanne kannte das schon; das war nicht das erste mal. Diese Tests wurden in den letzten Jahren schon durchgeführt. "Hast du dazu irgendwelche Fragen?" Sie schüttelte den Kopf und blickte auf den Schreibtisch, auf dem es so etwas wie Ordnung nicht gab. Der etwas muffige Geruch in diesem Büro passte zu den vergilbten Vorhängen, die dort schon mindestens zwanzig Jahre hängen mussten. Auch die Tapete hinter Frau Kaup sprach für dieses Alter.
"Okay, und wenn du doch noch Fragen hast, kannst du jederzeit vorbeikommen." Susanne nickte und schenkte der Frau ein Lächeln zum Abschied.

In ihrem Zimmer angekommen, schmiss Susi ihre Tasche auf das Bett, um dann das Zimmer wieder zu verlassen und an der Tür, direkt neben ihrer, zu klopfen. "Komm rein!"
"Hey Susi", begrüßte Ann ihre Freundin. Susanne lächelte und setzte sich zu ihr auf das Bett. Neugierig schielte sie dabei auf Anns Handy.
"Erinnerst du dich noch an meine Tante aus Amerika, von der ich dir mal erzählt habe?", fragte Ann, als ihr Susis Blick auffiel. Susi nickte und überflog den Chatverlauf zwischen den beiden. "Sie würde mich zu sich nach Amerika holen. In einem Monat schon", freute sie sich.

Ann kam damals im selben Monat wie Susi in das Heim. Ihre Eltern waren mit ihr zu überfordert und sie wurde deshalb hierher gebracht. Sie selbst wollte auch nicht mehr zurück zu ihren Eltern.
Susi hätte zu einem Onkel können, den sie aber bisher noch nie gesehen hatte. Auch wohnte er viel zu weit weg, und das wollte sie nicht.
Kurzzeitig war Susanne auch in einer Pflegefamilie, die ein besonderes Kind wollte. Wahrscheinlich war sie doch nicht besonders genug. Wer wollte schon ein Kind, das zwar sprechen konnte, es aber einfach nicht tat? Auch wenn es viele Leute nicht wussten, dass sie es konnte. Gebärdensprache hatte ihre Großmutter damals beigebracht, als sie noch ganz klein war. Die meisten dachten daher, dass sie es einfach nicht konnte. Warum sonst konnte sie denn Gebärdensprache, wenn sie nicht stumm war?

"Bitte versprich mir, dass du deswegen nicht traurig sein wirst." Ann legte ihre Hand auf den Arm von Susi und sah ihr dabei in die Augen. Sie zwang sich zu einem Lächeln und nickte. "Ich werde mich immer melden, versprochen." Ann setzte sich auf und umarmte sie. Ann war die Einzige, die sie so anfassen durfte. Nähe zu anderen Menschen war für sie mehr ein Zwang und alles andere als angenehm. Es fühlte sich für Susi so gut an, zu wissen, dass jemand da war. Aber was war in einem Monat? Mit den meisten hatte sie überhaupt nichts zu tun, sie wusste ja nicht mal deren Namen. Die meisten wollten auch nicht viel mit ihr zu tun haben, sie wussten nicht, wie sie richtig mit ihr umgehen sollten.
Ein Mädchen, das schwieg, und keiner wusste warum. Susanne selbst wusste nicht einmal mehr, wie sich ihre Stimme anhörte oder ob sie überhaupt noch sprechen konnte. Anfangs dachten die Leute, dass es nur eine Phase sei. Es war nie eine Phase gewesen; heute nannten die Ärzte es Mutismus. Sie hatte nicht einmal das Bedürfnis zu sprechen, egal in welcher Situation.

"Ich werde dich auch oft besuchen...", versuchte Ann die Situation noch irgendwie zu retten. Jetzt war es Susanne, die ihre beste Freundin in den Arm nahm, um sie zu trösten. Die beiden waren von Anfang an unzertrennlich, obwohl sie so verschieden waren. Susanne beneidete Ann oft für ihr Selbstbewusstsein, während sie einfach nur möglichst wenig Aufmerksamkeit wollte. So konnten auch selten Situationen entstehen, in denen sie Angst haben musste, sich unter Beweis zu stellen.

"Ich glaube, wir sollten langsam mal anfangen, unser Zeug für die Schule herzurichten. Das war's mit sechs Wochen Ruhe", lachte Ann und versuchte so, das Thema zu wechseln.
Susi verzog das Gesicht und nickte. Auch wenn sie nicht schlecht in der Schule war, graute es sie wieder davor. Neue Klasse, neue Mitschüler.
"Aber hey, nur noch ein Jahr, dann haben wir das auch hinter uns."

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