Kapitel 9

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Rage against the Machine - Killing in the Name of

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Die Herde graste ruhig, geschützt vor übermäßiger Sonne unter den Bäumen einer kleinen Lichtung. Von Zeit zu Zeit hob eines der Tiere seinen Kopf aus dem hohen Gras, nur um sich sofort wieder dem Grün zu zuwenden, keines von ihnen witterte die Gefahr, die sie aus den Büschen beobachtete.

Vorsichtig verlagerte Sasha sein Gewicht auf das andere Hinterbein, er hatte bis jetzt Glück gehabt. Der Wind wehte in seine Richtung und verhinderte, dass sein Geruch die Rehe erreichte. Sein Magen gab ein leises energisches Knurren von sich und Sasha musste sich zum dritten Mal an diesem Tag zur Geduld ermahnen. Die Instinkte des Wolfes drängten ihn dazu, sich auf seine Beute zu stürzen und ohne Rücksicht auf Verluste zu töten. Doch die Erfahrung hatte ihn gelehrt, sein inneres Tier zu ignorieren und sich auf gesunden Menschenverstand zu verlassen. Vorsichtig bog er weitere Zweige des Fliederbusches zur Seite und spannte die Muskeln an. Sein Ziel, ein Rehbock mit weißen Tupfen auf dem Rücken, stand etwas abseits und knabberte an den jungen Trieben einer Fichte.
Schließlich hatte das Raubtier in ihm genug, er hockte sich auf den Boden, betrachtete noch einmal seine Beute und sprang. Der Kopf des Rehs schoss in die Höhe, doch es war bereits zu spät. Sein Körper zuckte noch, als es versuchte zu flüchten, aber Sashas Krallen hatten sich schon längst in die weiche Haut gegraben und mit einem gezielten Biss brach er dem Bock das Genick. Der Rest der Herde graste friedlich weiter, ungeachtet des blutverschmierten Wolfes unter ihnen.
Das tote Tier immer noch im Maul, suchte er sich gerade ein neues Ziel, als er etwas anderes, alles andere als erfreuliches im hohen Gras herumlaufen sah. Freudig hechelnd und noch dazu mit dem Schwanz wedelnd. Ein Welpe. Mit wachsendem Unmut beobachtete er, wie der Kleine munter zwischen den Rehen umherhüpfte und nach deren Beinen schnappte. Sasha seufzte entnervt. Panik brach aus und sein Mittagessen verflüchtigte sich unter dem lauten Bersten von Zweigen und Gestrüpp. Als der Welpe ihm schließlich zu nah kam und neugierig seine Beute beäugte, wurde es Sasha zu bunt. Mit einer fließenden Bewegung holte er aus.

Ein hässliches Knirschen ertönte, als Knochen auf Knochen trafen und aus den Wunden des Rehs spritzte eine ordentliche Menge Blut, als es den Welpen erwischte. Reglos blieb er liegen und nur sein flachen Atemzüge bezeugten, dass noch Leben in ihm steckte. Mehr oder weniger zufrieden mit der eingekehrten Ruhe machte sich Sasha vor der Kulisse der entfliehenden Herde über das Fleisch her.

Unter das panische Schnauben und den Donner der Hufe der fliehenden Herde mischte sich das dumpfe Geräusch weicher Pfoten.
Der Schlag von der Seite überraschte ihn, sodass er seinen Halt verlor und einige Meter weiter benommen liegen blieb. Der Aufprall benebelte sein Bewusstsein und die Bäume am Rande seines Sichtfelds verschwammen. Er verzog schmerzerfüllt das Gesicht, als er mühsam den Kopf hob, um seinen Angreifer genauer zu betrachten. Schwarz.
Sasha erschauderte unter dem Blick der eiskalten blauen Augen des Wolfes. Alle seine Instinkte schrieen nach Flucht, ein Alpha und noch dazu ein starker. Schwankend stemmte er sich vom Boden auf die Füße und sah sich unauffällig nach einem Fluchtweg um, als der Alpha erneut angriff. Blut durchtränkte sein schokoladenbraunes Fell, sodas es in der Sonne leuchtete wie rostiges Metal und der Schmerz nahm ihm beinahe den Atem. Wut, heiß wie ätzende Säure durchfloss seine Adern, zwang ihn, alle seine restlichen Kräfte aufzubringen, um den Anderen von sich herunter zu schieben. Das Geräusch von reißendem Fleisch ertönte, als sich die Zähne des Alphas aus Sashas Körper lösten. Mit einer fließenden Bewegung brachte er sich außer Reichweite des Anderen und wartete auf dessen nächsten Angriff, die Muskeln bebend vor Schmerz und unterdrückter Energie.

Castiel rannte so schnell er konnte. Er wollte Sasha erreichen, ehe sein Vater ihn erreicht hatte. Plötzlich spürte er eine Erschütterung. Er war zu spät. Sein Vater war bereits auf Sasha getroffen und hatte ihn angegriffen. Sein Gefährte hatte Schmerzen, er konnte es spüren und es machte ihn fast verrückt. Noch weiter beschleunigte er seine Schritte. Er war ganz nah, nur noch wenige Meter. Castiel stürmte auf die Lichtung. Er erfasste die Situation innerhalb von Sekunden. Sein Vater stand Sasha, der bereits stark blutete, gegenüber, bereit zum Angriff. Der Geruch Sashas Blutes vernebelte Castiel die Sinne und katapultierte ihn um einiges näher an den Rand der Klippe, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Castiel schaltete schnell, sprang seinen Vater von der Seite an und stürzte ihn zu Boden, ehe diser Sasha erneut anfallen konnte. Er wollte nicht, dass seinem Gefährten noch mehr Schaden zugefügt würde, er konnte es nicht zulassen.

„Vater." „Alpha. Hier bin ich dein Alpha", bellte Castiels Vater postwendend über ihren Link zurück, begleitet von einem Knurren. „Alpha", setzte Castiel neu an, „Alpha, du darfst ihn nicht töten..." „Ich bin dein Alpha, du hast nicht zu entscheiden, was ich kann und was nicht." Damit bäumte sein Vater sich auf, doch Castiel hielt ihn am Boden, presste ihn mit seinem ganzen Gewicht in die feuchte Erde und bellte ihn an, fletschte die Zähne. „Nein."

In ihm stieg Angst auf, Panik. Seinem Alpha zu widersprechen, sollte kein Wolf wagen, aber seinen Gefährte im Stich zu lassen, ihm nicht zu helfen, war bei weitem schlimmer. Es wühlte Castiel auf. Er stand im Zwiespalt und wusste nicht vor, nicht zurück. Letztendlich gewann sein Gefährte. Er ging vor, sollte immer vorgehen.

„Nein. Alpha", fast spottend knurrte er die Bezeichnug. „Hör zu." Wütend schnappte er in einer Drohung nach der Kehle seines Vaters, der sich noch immer unter ihm wand, um frei zu kommen, doch Castiel unterband jeden Fluchtversuch. Ein dunkles Grollen entrang sich seiner Kehle. Mit angelegten Ohren und gefletschten Zähnen knurrte er seinen Vater tief an.

Die grauen Augen kalt und berechnend sah er auf ihn hinab. Castiels Vater hielt still. „Vater." Auf einen strafenden Blick setzte er neu an: „Alpha. Ich tue alles was du von mir verlangst dafür, aber töte ihn nicht."

Beunruhigt, aber auf irgendeiner verquerten Weise durchaus amüsiert, betrachtete Sasha die zwei. Er war beeindruckt von Castiels plötzlichen Charakterwandel und doch spürte er, dass es alles andere, als eine leichte Entscheidung für seinen Gefährten gewesen sein musste, sich so gegen seinen Alpha zu stellen.
Trotzdem konnte er sich nicht zurückhalten. „Dein Alpha ist ja schon irgendwie ein Idiot", er stellte sich vor, wie die Worte wie Wasser über ihr Band zu Castiel hinüberflossen.

Die Stimme seines Gefährten in seinem Kopf lenkte Castiel ab und brachte sein erhitztes Gemüt noch weiter zum kochen. Ruckartig wandte er Sasha den Kopf zu. „Sag nichts Schlechtes über meinen Alpha." Es war ihm egal, dass sein Vater unter ihm zu zappeln begann, dass er sich befreite, was er tat. „Das hier, alles, diese komplette verkorkste Situation ist deine Schuld. Du hast den Welpen angefallen. Was das wirklich nötig? Na? War es das? Hat es wenigstens Spaß gemacht? Hm? Deinetwegen sind wir in dieser Situation und ich darf den Karren aus der Scheiße zerren. Danke dafür übrigens." Spätestens jetzt war die Sicherung nicht nur durchgebrannt, sondern lichterloh in Flammen aufgegangen und hatte alles umstehende gleich mit in einen Haufen grauer Asche verwandelt. „Schau dich doch mal an. Hältst dich für den allergrößten, sobald du da bist, wird alles gut. Du bist nicht halb so stark wie du denkst. Du und dein fettes Ego." Immer weiter wuchs Castiels Wut, die Last der letzten Jahre entlud sich explosionsartig und wenn er in der Verfassung gewesen wäre, daran zu denken, täte es ihm sicher leid, dass es seinen Gefährten traf. So aber trat er nur näher an ihn heran, Schritt für Schritt und mit der Nähe steigerte sich auch seine Lautstärke. „Ich bin kein kleines Mädchen, für das du kämpfen musst, keine Prinzessin, die du retten musst. Ich bin ein Alpha. Ich bin verdammt nochmal stärker als du und mein Rudelführer ist es erst recht. Was fällt dir eigentlich ein, seine Ehre zu beschmutzen?! Sei froh, dass wir uns nicht zusammentun, um dich wie eine kleine unbedeutende Fliege zu zerquetschen, denn dann gute Nacht. Und jetzt lauf endlich weg. So weit wie du kommst. Ich finde dich schon. Los, hau ab. Lauf!"
Sasha richtete sich auf und fletschte die Zähne. „Laufen? Wie genau stellst du dir das vor?" Er blickte fast vorwurfsvoll an sich hinab. „Vergiss es, ich hab hier noch mehr als eine Rechnung offen!"
Er humpelte Castiel entgegen und strich ihm mit dem Kopf beruhigend über das aufgestellte Fell. „Komm erst mal runter, Frischling. Du verlierst dich", murmelte er leise.
„Genau. Meinen - mit drei funktionstüchtigen Beinen wohlgemerkt - nicht laufen zu können und dann noch Rechnungen begleichen wollen. So sieht die Welt aus, Pipi Langstrumpf", auch wenn die Berührung seines Gefährten ihn in gewisser Weise wieder auf den Boden gebracht hatte, ruhig war er noch lange nicht. Und dass sich Sasha so bestehend weigerte, einzusehen, dass der Kampf für ihn verloren wie beendet war, sorgte auch nicht für mehr Ruhe und Zufriedenheit.

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