Sofia

20 5 0
                                    

Wir waren beide sehr überrascht von diesem Mädchen gewesen. Warum willst du wissen? Weil es nicht oft Mädchen gibt, die einfach wegrannten und spurlos verschwanden, (vor allem nicht von Beerdigungen), wenn sie einen Tisch umgestoßen hatten. Ich hatte nur das geschrei im Vorraum vernommen und einen schnellen Blick herein gewagt- lauter Menschen in viel zu feinen Kleidern und viel zu viel Make-up und dann war eine leuchtendrote Wolke an mir vorbeigesaust, so schnell, dass man wirklich nur einen wallenden, roten Rock sah und vielleicht noch ein bisschen Haare und Haut, die in ihrer Lichtgeschwindigkeit mit der Umgebung verschwammen. Mich hatte lange nichts mehr so erschreckt, wie dieses Mädchen (nach längerem überlegen war ich mir sicher, dass es wohl eines gewesen sein musste). Es rannte an mir vorbei, behielt diese orbitale Geschwindigkeit quer über die Placa, ein paar Leute sprangen zur Seite, und dann verschwand sie, wie in der Luft aufgelöst, im Nichts zwischen den Touristenkameras. Ich hörte noh eine Stimme, die wohl ihren Namen rief, ich war mir nicht sicher, ob es Lara, Mira, maria oder Cora war und dann schritte an der Tür. Es war er, und sein Blick erinnerte mich an unsere erste gemeinsame Nacht, voller Verblüffung und Unsicherheit. 

Er war so berührt, dass er sein Buch aus der Tasche nahm und etwas aufschrieb, dass ich natürlich nicht lesen konnte, aber ich sah es, ganz aufgewühlt war er. Und dann nahm er sein Fahrrad, das er an der Eisdiele abgestellt hatte und raste in Richtung Stadtauswärts- richtung Hafen. Nicht mal seine Gitarre hatte er ordentlich geschultert, obwohl sie immer das erste war, um was er sich kümmerte. Diesmal beachtete er mich nicht, wie ich an der Kirchenwand lehnte und ich wunderte mich auch nicht.

In seinen Augen war dieser Blick, der jedes Mal an einen Kaffee, den jemand mit einem Löffel durchmischt hatte, erinnerte, so aufgewühlt und betroffen. Ich folgte ihm bis zum Wald, aber dann fuhr er mit seinem Fahrrad so schnell, dass ich kaum noch mithalten konnte. Die Wege hatten wir bereits hinter uns gelassen und ich war sehr erleichtert, als er für eine kurze pause abstieg um sich zu orientieren. Wenn sich ein Mensch wie er zu orientieren versuchte, dann dauerte das eine Weile: man guckte zuerst in eine Richtung, überlegte, schüttelte den Kopf, drehte ihn in einen andere, dachte nach, schüttelte ihn wieder. und sein Denkgesicht war so seltsam schön, dass ich jedes mal hätte lachen können, aber ich wollte nicht, dass er mich hörte. Nicht jeder hatte ein so hübsches Denkgesicht. Aber dann fuhr er doch weiter und diesmal noch hektischer und schneller als vorher. Wir kamen an einen Hof und ich hatte in den ersten Sekunden keine Ahnung, wo wir gelandet waren. Er stellte seine Gitarre an einen Baum und ich dachte zuerst, ich solle auf sie aufpassen, aber da er mich gerade eh nicht beachtete, lies ich es sein und schlich ihm hinterher.

Wir vernahmen Stimmen, die einer Frau und die einer jüngeren frau, eines jungen Mädchens. "Was hast du für Gedanken im Kopf, Kind?" oh, das klang ziemlich nach Nervenzusammenbruch.  Er lugte durch ein Loch in der Hecke (verdorrter gings nicht)und seine Jeans knisterte leise beim Hinknien. Da sahen wir die beiden. Tatsächlich: eine dame, ungefähr um die 40, vielleicht älter, schulterlanges, blondbraunes haar mit leichten Locken. Sie trug ein dunkelrotes, ziemlich langweiliges Kleid, das aber trotzdem ihre Figur betonte. Himmel, sie war nicht gerade dick. Schlank, eher schmächtig, das wäre das richtige Wort gewesen. Trotz der Hitze sah ich keine Schweißflecken aber ihre Wangen und auch die des Mädchens waren ebenfalls Fuchsienrot, als käme sie von einem Marathon aus Palma. Das Mädchen war sehr schlank- wie konnte es anders sein, eher dünn, aber sie hatte hübsche Hüften. Ein bisschen erinnerte sie mich an meine Cousine Paula, aber ihre Haare waren heller und länger, außerdem trug sie einen Zopf (Paula und Zöpfe gehörten so viel zu einander wie Palmen zum Weihnachtsfest) und ihr Kleid war in einem wundervollen Apfelrot. Ich sah sie von hinten-wir sahen sie von hinten-  und erst jetzt fiel mir auf, dass sie das Mädchen war, das aus der Kirche gerannt war- mit ihrem wehenden Rock. Wie eine Prinzessin. Es rennt nicht alle Tage eine Prinzessin aus einer Kirche als flüchte sie von ihrer Eheschließung mit dem falschen Prinzen. Wahrscheinlich war es das, was er aufgeschrieben hatte. "Hick!!"  Oh Gott, hatte er mich erschreckt. "Hick!" Er hatte Schluckauf und das erinnerte mich an früher. Kannst du nicht einmal an passenden Momenten Schluckauf bekommen? Dann wenn es nicht so peinlich ist? "Scheibe," murmelte er und holte tief Luft. Nein, du darfst nicht Luft holen, dann wird es nur schlimmer, Miguel! Er hörte meine Gedanken nicht, sondern ging nur noch näher an die Hecke heran.

Miguel bekam immer nur dann solchen Schluckauf, wenn er aufgeregt und angespannt war, das war wissenschaftlich erwiesen, von ihm selber. "Einfach von einer Beerdigung wegrennen, das wäre nicht mal mir eingefallen!", sagte die Frau und lachte ein sehr nervöses, unherzliches, unterdrücktes Lachen und drückte ihre Tochter kurz, um sie dann wieder von sich zu schieben als sei sie eine heiße Kartoffel. Was war das denn für eine Art, jemanden zu umarmen? Außerdem war ich mir jetzt ganz sicher, dass sie es war- und wunderte mich warum ich nicht schon viel früher darauf gekommen war, wo er hatte hinfahren wollen.


Das Gespräch ging weiter und immer wieder hickste sein Schluckauf dazwischen. Die Mutter mit der seltsamsten Art und Weise jemanden zu umarmen sagte, nachdem sie beide mit hängenden Schultern dagestanden hatten und auf ire Füße gestarrt hatten:


"Bitte Sara, (aha, nicht Cora und auch nicht Mira), bitte gib uns allen noch ein bisschen Zeit" Huch, das war aber was Ernstes. "Die habt ihr doch", antwortete sie gepresst. "Ihr hattet alle Zeit der Welt, euch daran zu gewöhnen, dass der, den ihr immer verabscheut habt, jetzt eben nicht mehr da ist. Oh, ihre Stimme zitterte. "Es ist jetzt nur leider zu spät, euch zu entschuldigen, nachdem ihr jahrelang gewartet habt, dass er sich entschuldigt."  Ich hörte, wie das Mädchen nach Luft rang und dann drehte sie sich um und lief seltsamerKreise, auf und ab. Die Frau in dem langweiligen Kleid biss sich auf die Lippe du ich spürte herzhaft den Schmerz dabei mit. "Kind, bitte, jetzt sei nicht so...so stur, es ist doch sinnlos, wieder damit anzufangen".  Die Antwort kam wie aus der Pistole. "Wieder? Wie kommst du auf wieder, Ma? Wir haben nie darüber geredet. Noch nie."

Jetzt war es wie Ping Pong. Hin und her, sie, die Andere. Ping Pong. 

"Es gibt eben Dinge, vor denen sollt man lieber warten, bevor man sie gleich hinterfragt. Es gibt Stoppschilder im Leben ,Sara. Vor denen man stehen bleiben und sich überlegen sollte, ob man will, dass es weitergeht."  "Es ist mir egal, wie viel Stoppschilder es gibt. Muss man vor jedem halten? Muss man immer so spießig sein? Ich bin halbe Spanierin."

Miguel schrieb und ich hörte wie seine Zähne vor Aufregung leicht knirschten. das Mädchen drehte sich auf dem Absatz um und jetzt sahen wir ihr Gesicht, das vor Wut ganz zerknittert aussah. Sie hatte richtige Sorgenfalten , was mir, vor allem für eine jungen Menschen, dezent zu früh vorkam. Wer hatte in dem Alter schon so viele faltengrabende Erlebnisse gehabt? 

"Ich...ich konnte nicht. Die Leute- sie waren soo...sie haben ihn nicht ernst genommen. Sie haben den Anlass verachtet.", sagte das Mädchen. " Sie- sie... sie waren nur da um zu lästern, ich konnte das nicht ertragen". Ihre Miene war so entsetzt und leer, dass Miguel gleich noch einmal Schluckauf bekam. Diesmal drehte sie irritiert den Kopf Richtung Hecke und er quetschte sich noch ein Stück an die Mauer. Aber natürlich musste genau in diesem Augenblick die Mutter zu ihr gehen und den Arm von hintem um sie legen. "Es tut mir leid, "sagte sie und man konnte ihre Schluchzer hören. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie er in sein Büchlein kritzelte.

"Bitte, Sara, ich weiß du willst dahin nicht zurück. Aber es ist unhöflich ihm gegenüber. Er hat sich gefreut, auf diesen Tag, an dem er dich verabschieden darf. "Das Mädchen schnaubte durch die Nase um ihre Tränen abzuhalten. Sie sah aus wie eine gefangene Gazelle, die sich aus den Klauen eines Leoparden wandte. 

"Ich komme wann anders, nicht jetzt, Ma", gab sie zurück und machte sich von deren Armen los, "das will er nicht, dass ich das mache." Eine Männerstimme rief von der Einfahrt einen unverständlichen Satz. Ihre Mutter seufzte und wischte sich mit einer winzigen, raschen Handbewegung das Gesicht trocken. "Jochen wartet im Auto auf mich. Wir..-", sie sah über die Schulter zu dem kleinen (roten) Clio, "ich denke wir fahren zurück und klären das Gröbste mal ab." Das Mädchen nickte. Sie hatte aufgehört im Kreis zu laufen und sich mit in die Hände gestütztem Kopf auf die Treppenstufen gesetzt. Der Wind streichelte sanft ihre Haare, als wollte er sie trösten. "Ich bleibe. Ich muss auf Dalaila aufpassen. Sie verdurstet hier sonst und...ich kann im Moment mit niemandem reden." Miguels Stift verharrte und er ließ sich in einen Schneidersitz fallen. Ich sah ihn von der Seite an und sah dass er ziemlich betroffen war. Dann fuhr der rote Clio die Einfahrt herunter und es war wieder Stille. Man hörte seinen Herzschlag. Meinen natürlich nicht.


Früher hätte ich das wahnsinnig sexy gefunden-jetzt war es eher unpassend.


Cómo volvíaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt