Kapitel 56

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Seit exakt 4 Stunden und 23 Minuten lief ich nun bereits in Jareds Wohnung hin und her. Ich hatte keine Ahnung, warum er so plötzlich verschwunden war und weshalb er auf einmal so sauer auf mich war, dass er mich nicht beachtet hatte. Das Ticken der Uhr, auf die ich unentwegt starrte, machte mich noch viel nervöser, als ich ohnehin schon war. Auch wenn ich versuchen wollte, seine Stimmung, in der er zuvor aufgebrochen war zu beschreiben; ich könnte es nicht. 
Ich hatte bereits einige Male versucht, Jared auf dem Handy anzurufen. Beim ersten Mal klingelte es noch, aber er ignorierte meinen Anruf. Als ich es erneut versuchte, sprang sofort die Mailbox an. Es schien, als hätte er sein Handy extra ausgeschaltet, was mich mehr verletzte, als ich mir zugestehen wollte.
Nachdem wir stundenlang geredet hatten und ich das Gefühl gehabt hatte, dass es keine Geheimnisse mehr zwischen uns gab und alles in Ordnung kommen würde, hätte ich niemals erwartet, dass es nur wenige Stunden später wieder so werden konnte, wie noch einige Monate zuvor. Ich wusste nicht einmal, ob ich überhaupt in Jareds Wohnung bleiben sollte oder er wollte, dass ich verschwunden war, wenn er wieder zurückkommen würde.

Unschlüssig, was ich nun tun sollte, ging ich in den Flur und entsperrte mein Handy. Mein Daumen schwebte über Jareds Namen in meinem Adressbuch. Ich wollte es noch einmal probieren, vielleicht war es ja einfach nur ein dummer Zufall gewesen, dass er gerade nicht erreichbar war. 
Bevor ich es mir anders überlegen konnte, tippte ich auf den Bildschirm und hielt das Telefon an mein Ohr. Wie erwartet hörte ich kein Tuten. Wieder sprang direkt die Mailbox an. Frustriert stöhnte ich auf und beendete den Anruf. Dann zog ich mir wieder mein Kleid vom Vorabend an und verließ die Wohnung - jedoch nicht ohne noch einmal einen letzten Blick hineinzuwerfen.
Es fühlte sich genauso an, wie beim letzten Mal, als ich in Jareds Wohnung gewesen war. Ich verließ sie alleine und vollkommen frustriert von der Entwicklung, die unsere Beziehung machte.

Sobald ich auf dem Gehweg vor dem Haus stand wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich hingehen könnte. Ich wollte nicht nach Hause - zumindest nicht sofort - da es sein konnte, dass Finn dort war. Immerhin hatte er ja auch die Wochen vorher bei mir übernachtet, aber in diesem Moment war er die nun einmal die zweitletzte Person, die ich sehen wollte. Es war falsch, dass ich mich auf ihn eingelassen hatte. Natürlich konnte er nett und hilfsbereit sein, so wie als er sich nach meiner Verletzung an meinem Unterarm um mich gekümmert hatte. Aber andererseits war er auch einfach ein Idiot, der mich nicht ins Krankenhaus gefahren hatte - und das bei dem vielen Blut, das ich verloren hatte. Wie die anderen seiner Freunde hatte er kein Ziel, keine Perspektiven. Einen Monat zuvor fand ich es noch toll, in den Tag hinein zu leben, aber nun wünschte ich, ich hätte die Zeit einfach zurückdrehen können, sodass ich niemals gegangen wäre. 

Jared hätte mir helfen können, er hätte mich wieder aufrichten können, nachdem ich am Boden war. Aber ich hatte es einfach nicht zugelassen. Ich dachte, ich könnte alleine damit fertig werden - aber das konnte ich nicht.
Ich würde nicht mehr weglaufen, nie wieder und musste endlich meinen Problemen stellen.
Entschlossen zückte ich mein Handy und wählte eine Nummer, die ich lange nicht mehr gewählt hatte. Bevor es ein zweites Mal klingelte, hob auch schon jemand ab.

"Avery? Bist du es, Schatz?" Ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung.
"Ja, Mum. Ich bin's."
"Gott sei Dank! Wir haben uns solche Sorgen gemacht." Um ehrlich zu sein, es überraschte mich etwas, diese unglaubliche Erleichterung in ihrer Stimme zu hören. Mir war bewusst, dass sie sich Sorgen gemacht haben mussten, aber ich habe ihnen ab und zu Nachrichten geschrieben, um ihre Besorgnis möglichst gering zu halten. Vielleicht war ich meinen Eltern doch nicht so egal, wie ich immer geglaubt hatte.
"Avery? Bist du noch dran?", fragte meine Mum mit einer leichten Panik in der Stimme, als hätte sie Angst, ich würde jeden Moment wieder auflegen und den Anruf beenden.
"Ja. Ja, ich bin noch dran. Wie geht es euch? Und Sam?" Bei seinem Namen spürte ich ein Engegefühl in der Brust. Ich hatte auch meinen kleinen Bruder im Stich gelassen.
"Uns geht es allen gut. Aber viel wichtiger: Wie geht es dir? Wo warst du? Ich habe mich vor einigen Wochen mit Logan unterhalten und er wusste auch nicht, wo du steckst und das, obwohl ihr zusammen seid und..."

"Mum..." Sie unterbrach ihren Redefluss sofort.
"Ja?"
"Logan und ich haben uns vor etwa zwei Monaten getrennt." Für einen Moment war es still am anderen Ende der Leitung, bis meine Mutter ihre Sprache wiedergefunden hatte.
"Was? Aber warum hat er dann nichts erwähnt, als ich mit ihm geredet habe? Er hat sogar selbst behauptet, ihr wärt noch ein Paar."
"Ich... Es ist kompliziert, Mum."
"Dann komme ich vorbei und du erklärst es mir." Sie klang entschlossen und ich meinte fast einen Schlüssel um Hintergrund rascheln zu hören, als würde sie sofort aufbrechen wollen. Zu diesem Gespräch war ich aber wirklich noch nicht bereit, und vor allem konnte ich es nicht alleine führen.
"Nicht jetzt, Mum. Ich werde euch besuchen kommen. Bald. Ich verspreche es. Aber du kannst nicht zu mir kommen, ich muss erstmal einige Sachen regeln."

Bevor sie antwortete, hörte ich eine andere Stimme, die ihr etwas zu sagen schien.
"Ja Schatz, es ist Avery." Ich konnte an ihrer Stimme hören, dass sie lächelte, als sie diese Worte aussprach. Wieder sagte die andere Stimme etwas.
"Nein jetzt ni... Ach, was soll's. Avery? Hier wäre noch jemand, der mit dir reden möchte." Im nächsten Moment kreischte mir bereits jemand ins Ohr.
"Avy! Ich habe dich so vermisst!"
"Sam." Ich konnte nicht mehr sagen, als dieses eine Wort. Meine Augen füllten sich mich Tränen, aber diesmal, weil ich von Glücksgefühlen überschüttet wurde.
"Ich habe dich auch vermisst, Kleiner.", sagte ich sanft und schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, hinunter.

"Wirklich?" Seine Stimme klang tatsächlich ungläubig. "Ich dachte, du magst mich nicht mehr und deswegen darf ich dich nicht mehr besuchen."
Es tat mir weh, dass er so etwas wirklich dachte und es tat noch viel mehr weh zu wissen, dass ich für diesen Schmerz verantwortlich war.
"Du darfst so etwas nie wieder denken, Sam. Ich habe dich so unfassbar lieb, viel lieber, als alle anderen Menschen auf dieser Welt."
"Du hast mich sogar lieber als Logi?", fragte er erstaunt und ich hörte, dass seine leichte Traurigkeit verschwunden war. Als Sam diese Frage stellte, musste ich stehen bleiben, da sie mich wieder völlig aus dem Konzept brachte. Es gab noch so viele Sachen, die ich klären musste. Ich atme dreimal tief durch, bevor ich antwortete.
"Ich habe dich sogar viel lieber als Logan."

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