Kapitel 35 • Wut

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>Yeah I'm empty inside and I don't wanna live but I'm too scared to die<


Die Chemo war so verlaufen wie die letzten. Beschissen. Aber ich konnte es nicht ändern und meine Mutter würde jede Minute kommen, um uns nach Hause zu bringen. Schließlich hatten wir nun eine Woche Aplesie und dann drei Wochen Freizeit, bis der nächste Zyklus begann. Aber bis dahin war noch ein wenig hin und jetzt hieß es erstmal viel duschen und Hände waschen.

Endlich kam meine Mutter, nahm uns die Taschen ab und ich stieg ins Auto ein. Mia stieg auf der anderen Seite ein und meine Mutter setzte sich hinter das Lenkrad. Wir beide hatten nun mal noch keinen Führerschein. Mia hatte gestern auch ihre letzte Chemo für den Zyklus und wie versprochen nahmen wir sie nun mit zu uns. Das Zimmer meiner Schwester war leer (was auch sonst) und würde für ihren Aufenthalt hier zu ihrem umfunktioniert werden.

"Was wollt ihr heute essen?", fragte meine Muter fröhlich von vorne. "Also ich bin für Nudelauflauf.", witzelte ich und erntete tödliche Blicke von Mia. "Späßchen. Ok, das war ein wenig lächerlich. Reispfanne?" Jetzt war es ernst gemeint und Mia fing freudig, wie ein kleines Kind, an in ihre Hände zu klatschen. Meine Mutter und ich mussten lachen. Es hatte schon etwas affig ausgesehen und Mia stieg in unser

"STEGI! MIA! ESSEN!", brüllte meiner Mutter von unten und wir hechteten die Treppe runter. "Lass' die Tablette beim Essen nehmen, oder?", schlug Mia vor und ich stimmte einfach zu. "Habt ihr eure Hände gewaschen?", wollte meine Mutter streng wissen und wir sprangen auf, denn das hatten wir -natürlich- noch nicht getan und kamen eine Minute später mit sauberen Händen zurück. "Wie viel soll auf eure Teller?" Wir nahmen beide eine sehr große Portion. Die verlorenen Kalorien kamen ja nicht von alleine zurück. Und wenn wir mal ehrlich mit uns waren, war Essen geiler als vieles andere.

Mittlerweile war es sechzehn Uhr und Tim war immer noch nicht da. Er wollte, wie sonst auch immer, um drei Uhr hier sein aber er kam einfach nicht. Auch an sein Handy ging er nicht und ich machte mir ziemliche Sorgen. Er war noch nie zu spät gekommen. Ob er wohl keinen Bock mehr hatte, mir zu helfen? Er musste mir ja ausnahmsweise nicht mal Kotzbeutel anreichen. Nur hier sein. Mehr nicht. Meine Mutter war auch schon netterweise den Weg abgefahren mit dem Rad aber auch da war kein Tim gewesen. Er wollte einfach nicht mehr zu mir. Oder ihm war irgendwas passiert. Ich machte mir Sorgen.

Halb fünf. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, dass er kommen würde. Doch es klingelte. Aber ich ging nicht runter, denn ich war mir sicher, dass es nicht Tim sein würde aber ich war im Unrecht.

Ein verschwitzter und ziemlich fertig aussehender Tim betrat mein Zimmer. "Entschuldigung.", sagte er und kam auf mich zu. Ich stand auf und schlug ihm einmal fest gegen seine Schulter. Zu mehr war ich nicht im Stande. Aber er schrie schmerzerfüllt auf und es sah nicht sonderlich geschauspielert aus. "Tim, was ist los?", fragte ich dezent hysterisch. "Nichts, nichts." Er tat es einfach so ab doch man konnte ihm ansehen, dass es nicht 'Nichts' war. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. "Glaub ich dir nicht. Zeig mal her." Ich wollte den Ärmel seines T-shirts hochschieben aber er wich zurück. "Nicht, Stegi. Bitte.", flehte er mich an. "Tim, egal, was da ist. Ich werde nichts abwertendes dazu sagen.", schwor ich und er gab nach und ließ mich den Ärmel hochschieben. Dort prankte ein dicker blauer Fleck. "Tim, das ist definitiv nicht 'nichts'. Warum wolltest du mir das nicht zeigen?" Ich war leicht sauer. Ich machte mir Sorgen. Er tat es mit einem gequälten"Unwichtig." ab, aber das war es ganz bestimmt nicht. "Tim, darf ich dir mal was sagen?" Ein Nicken seinerseits. "Vertraust du mir?" Wieder ein Nicken. "Und warum sagst du mir dann nicht, was das da", ich deutete auf den fetten blauen Fleck, "ist?" "Keine Ahnung." Ich sah, wie ihm Tränen in die Augen stiegen und meine Sorgen wurden nur noch größer. Ich nahm ihn einfach in den Arm. Wieder ein schmerzerfülltes Zischen und eine Träne lief seine Wange runter. Also zog ich sein Shirt hoch und stieß einen Laut des Entsetztens aus. Sein ganzer Oberkörper war voll mit blauen Flecken und anderen Verletzungen. "Tim! Wer war das? Ich schlag diese Person zusammen!" Den letzten Satz schrie ich und Tim lächelte mich nur gequält an. "Mein Vater." Und damit war alles vorbei. Ich manövrierte den völlig aufgelösten Tim auf mein Bett und schloss die Tür ab, damit uns keiner Stören konnte. "Warum, Tim. Warum tut er das?" Sein Kopf lag auf meinem Schoß und ich strich ihm durch die Haare. "Erzähl.", forderte ich ihn sanft auf und er holte tief Luft. "Mein Vater war ziemlich sauer, dass ich jeden Tag bei dir war und mich kaum um Max, meinen kleinen Bruder, gekümmert hab. Und dann hat Max, der eigentlich ein Musterschüler ist, eine drei minus in Deutsch mit nach Hause gebracht und er ist ausgetickt. Er wollte erst meinen Bruder, der gerade mal Elf ist, verprügeln. Aber ich hab mal mit ihm ausgehandelt, wenn er zuschlagen will, dann soll er mich nehmen und daran hab ich ihn dann erinnert. Er hat seine ganze Wut ausgelassen."

Zwischendurch hatte Tim immer wieder aufgeschluchzt und ich hatte seine Tränen weggestrichen. "Wieso kann der seine Wut nicht an anderen auslassen?" Ich war ziemlich wütend auf seinen Vater und mir tat Tim leid. Er zuckte nur die Schultern. "Aber, ich finde es echt toll, wie du dich so vor deinen Bruder stellst. Wie er dir wichtiger ist als du selbst." Das hatte mich tatsächlich berührt. Er lächelte. "Hätte ich für dich auch gemacht." Ich konnte nicht anders, als ihm dafür einen Kuss auf die Wange zu geben. Rein Freundschaftlich. Sowas tut man doch, unter engen Freunden. Oder? Wir liefen beide Rosa an (bei Tim sah man es definitiv weniger, da er gebräunt war und ich schneeweiß) aber mit einem Lächeln im Gesicht.

"Nein! Da steht, bei Miete fünfzig Euro und ich hab die Parkstraße und die Schlossallee. Also krieg ich hundert Euro!", plädierte ich und Mia zückte die Anleitung. Wir waren gerade in einem Monopoly-Rechtsstreit und ich glaube, jeder weiß, wie sowas aussieht. Tim war der Ansicht, nur die normale Miete bezahlen zu müssen, obwohl ich Parkstraße, so wie Schlossallee besaß und mir ziemlich sicher war, dass wenn man alle Straßen einer Farbe gekauft hatte, die Miete sich bei Straßen ohne Haus verdoppelte. Und ich war im Recht. Also gab Tim mir widerwillig seinen letzten hunderter. Nun besaß er noch genau drei Euro. Oder Monopoly Dollar, wie mans nimmt. Als er dann auch noch, nachdem er über ,Los' gelaufen war, auf dem ,Einkommenssteuer' Feld landete und somit keine zweihundert Geld (die einfache Variante, wenn man zwischen Monopoly Dollar und Euro schwankt) bekam, warf er das Spielfeld mit einem "Was ein dreckiges Scheißspiel!" um und sein Hund, mein Hut und Mias Schiff flogen durch den Raum und mein Haus von der Parkstraße ebenfalls. Mia und ich lachten und irgendwann wich Tims Wut ebenfalls einem Lachen.

Insgeheim schwor ich mir in dieser Nacht, ihm irgendwie mit seinem Vater zu helfen. Wie auch immer. Aber so konnte es nicht weiter gehen.

Liedzeile: -Empty by Olivia O'Brien-

*Ps: Song oben eingefügt*

Angels can fly • stexpertWhere stories live. Discover now