Prolog

1K 45 10
                                    

Ich trommelte nervös mit den Fingern auf dem Geländer des Stegs. Ich war noch nie mit einem Schiff gefahren. Alles hatte ich schon hinter mich gebracht; Fliegen,Auto fahren, Bus fahren, Zug fahren. Und jedes Mal war mir übel geworden. Zuversichtlich war ich also keineswegs. Bei einer Schifffahrt von zehn Stunden war es sehr unwahrscheinlich, dass es einen positiven Unterschied geben würde. Ich erwartete sogar einen negativen Unterschied.

Ich war auf dem Weg zu meinem Vater. Zumindest zu dem Mann, der mein Vater sein sollte. Ich hatte ihn nie richtig gekannt. Meine Eltern hatten sich schon früh geschieden und ich hatte mein bisheriges Leben bei meiner Mutter verbracht. Ich war glücklich gewesen. Zwar hatte ich keine Freunde gehabt, aber ich hatte nie welche gebraucht. Ich hatte alles gehabt, was ich gebraucht hatte. Alles. Meine Mutter war immer für mich da gewesen. Gab es Probleme, hatte sie sich darum gekümmert. Hatte ich Schwierigkeiten, hatte sie mir geholfen. War ich traurig, hatte sie mich getröstet. Es hatte wirklich nichts gegeben, worüber ich nicht mit ihr hätte reden können. Sie war der Sinn in meinem Leben gewesen. Ja, war. Jetzt war sie tot.

Die Erinnerungen an den Vorfall erdrückten mich wie Steine. Ich war beim Arzt gewesen, um mir ein Rezept für Tabletten abzuholen. Meine Mutter hatte mich dazu verdonnert, das nach dem Zeichenunterricht zu erledigen. Da es zu der Zeit schon dunkel war, wollte sie mich dann aus der Stadt abholen kommen. Ich rief sie also an, als ich fertig war und wartete dann. Es dauerte zehn Minuten, bis ich ihr Auto die Straße herunterfahren sah. An der Kreuzung hatte sie gerade grün. Sie bog also ab, um auf den Parkplatz zu fahren. Dann geschah alles unfassbar schnell. Von der Seite raste ein schwarzer Opel unnatürlich schnell über die rote Ampel. Meine Mutter hatte keine Chance. Ich sah alles mit an. Der Opel krachte in das Auto meiner Mutter. Ich erstarrte. Mein Herzschlag hallte in meinem Kopf und es fühlte sich an als würde die Luft, die ich einatmete, keinen Sauerstoff in meinen Körper bringen. Die Autos blieben in dem Wrack mitten auf der Kreuzung stehen. Ich starrte einen Moment auf das Bild, das sich mir bot. Dann rannte ich los. Ich warf mich neben der Beifahrertür auf die Knie und zerrte ein Stück Blech zur Seite. "Mom! Mom!" Ich sah durch die zersplitterte Fensterscheibe. Meine Knie brannten. Ich trug einen Rock und hatte mir die Knie aufgeschürft. Ich sah meine Mutter zwischen dem Lenkrad und dem Sitz eingeklemmt liegen. Sie war blutüberströmt und bewegte sich keinen Zentimeter. Die Tränen flossen über meine Wangen. "Mom! Mom, bitte! Sieh mich an! Bitte, sieh mich doch an! Jetzt sieh mich verdammt nochmal an!"

Ich nahm nicht wahr, wie mehrere Leute aus ihren Fahrzeugen stiegen, die Handys zückten, um Hilfe zu rufen, die restlichen Autos aufhielten und zum Wrack gelaufen kamen. "Holt das Kind da weg!" rief ein Mann. Einen Moment später, als ich gerade auf dem Boden lag und meine Arme nach meiner Mutter ausstreckte, legten sich ein paar starke Hände um meine Schultern und zogen mich hoch.

Ich wehrte mich, auch wenn mir dazu merklich die Kraft fehlte. Ich wurde fortgezogen. Ich konnte mich nicht auf den Beinen halten. Ich zitterte am ganzen Körper und konnte nicht mit dem Schluchzen aufhören. Ich wurde von einer Frau mit zur Seite genommen. Nach ein paar Minuten kam der Rettungsdienst. Ein paar Sanitäter kümmerten sich um mich. Dann erreichte mich die Nachricht, dass meine Mutter nicht überlebt hatte. Ich brach zusammen. Tage und Nächte beruhigte ich mich nicht. Ich blieb bei unserem Nachbarn, der sich gemeinsam mit seinem Sohn Eric, der genau in meinem Alter war, um mich kümmerte.

Seitdem waren nun ein paar Wochen vergangen. Wie viele es genau waren, konnte ich nicht sagen. Man hatte mir irgendwann mitgeteilt, dass ich zu meinem Vater ziehen würde. Und das hatte mich in die Lage versetzt, in der ich mich jetzt befand.

Ich war ein einsames Mädchen, das jeden Sinn im Leben verloren hatte und nichts hatte, was ihr Halt bot.

Ich seufzte. Die Brise ließ meine langen blonden Locken sacht und stetig um mein Gesicht wehen. Ich sah runter aufs Wasser. Mein Spiegelbild starrte mir ausdruckslos entgegen und ich war mir sicher, dass es genau wie ich darüber nachdachte, wie es wäre, wenn man sich vom Steg stürzen und ertrinken würde. Es wäre sicherlich kein allzu schneller Tod. Aber er wäre wahrscheinlich relativ schmerzlos. Oder?

"Entschuldigung?" Man tippte mir auf die Schulter.

Aus den Gedanken gerissen, drehte ich mich um.

Vor mir stand ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters. Er trug ein wenig zu lässige Klamotten und sah auch nicht aus wie einer der überpflegten Männer, die einen dicken BMW fuhren und in der Bank um die Ecke den Bürohengst spielten.

"Bist du Milena Mallym?" fragte er.

Ich nickte. "Ja, das bin ich."

Er zog die Mundwinkel hoch und griff in seine abgewetzte Lederjacke. Er reichte mir ein kleines Kästchen. "Ich soll dir das geben. Und dich darum bitten, es nicht zu ignorieren."

Ich nickte langsam. Ich war verwirrt. Wer sollte mir denn ein Päckchen zukommen lassen? Immerhin gab es niemanden, der mich kannte. Zumindest nicht richtig. "Okay, vielen Dank."

Der Fremde ließ mir ein freundliches Lächeln zukommen, ehe er sich umdrehte und im nächsten Moment verschwand.

Ich sah noch einen Moment in die Richtung, in die er gegangen war. Dann blickte ich auf das Kästchen, das ich in meiner Hand drehte. Es sah nicht besonders aus. Ein gewöhnliches schwarzes Kästchen. Es passte genau auf meine Handfläche und war nicht viel größer. Ich öffnete das schwarze Holz und sah ein Stück Silber unter einem gefaltenen Blatt Papier hervorstehen. Ich zog es vorsichtig heraus und hielt eine Kette in der Hand. Eine silberne Kette, an der ein blauer Stein in einer ovalen Fassung aus unterschiedlichem Material hing. An beiden Seiten daneben hing je eine kleine Feder, die durch je eine rote, eine braune und eine grüne Perle von dem Stein abgegrenzt war.

Es war wirklich schön. Es gefiel mir. Nur wollte ich wissen, was dieses eigenartige Geschenk zu bedeuten hatte. Ich nahm den Zettel aus dem Kästchen und faltete das Papier auseinander. Es war eine Nachricht in schwarzem geschwungenen Schriftzug darauf geschrieben.

- Milena

Zuerst tut es mir sehr leid, was mit deiner Mutter passiert ist.

Ich verspreche dir, dass ich mich gut um dich kümmern werde.

Das war nun wirklich der kreativste Anfang eines Briefes, den ich je gesehen hatte. Ich bekam nicht oft Briefe. Naja, gar keine. Aber ich wusste trotzdem, dass man durchaus liebevoller oder gefühlvoller schreiben konnte. Egal. Ich las weiter.

In dem Päckchen ist ein kleines Geschenk.

Das ist ein Talismann. Der wird dich beschützen. Häng ihn dir um den Hals und umfass den Anhänger mit der Faust, wenn du Angst hast.

Nimm ihn nicht ab

Dad-

Ich sah noch einen Moment auf die Worte, die ich gelesen hatte. Dann betrachtete ich den Talismann in meiner Hand. Er wird dich beschützen. Die Worte hallten durch meine Gedanken. Nimm ihn nicht ab.

Ich legte das Kästchen mit dem Zettel in die Tasche, die ich bei mir trug. Dann legte ich mir die Kette um den Hals und strich den Anhänger gerade.

Ein seltsames Gefühl zuckte durch meine Adern. Eine Art Gefühl von Sicherheit. Eine Frage stellte ich mir jedoch. Wieso hatte er mir den Talismann nicht gegeben, wenn er mich abholte? Immerhin würde das nur noch wenige Stunden dauern. Klar, ich würde meine erste Seefahrt allein machen. Aber wenn das der Anlass für den Talismann war, dann hätte er mir ihn doch auch per Post schicken können. Dann wäre er schon früher angekommen und ich hätte ihn rechtzeitig umlegen können.

"Achtung! Wir bitten nun alle Passagiere, sich an Bord zu begeben!" brüllte ein Mann über den Steg.

Ich blinzelte und sah auf. Die Türen waren offen. Ich nahm den Talismann in die Hand und presste die Finger darum zusammen. Manch einer mag das albern finden, aber ich hatte nunmal niemanden, der mich beschützen würde. Ich hatte den Talismann, das stimmt. Aber ein Glücksbringer und ein lebendiger Körper aus Fleisch und Blut, der Wärme abgab und groß genug war, um sich daran zu kuscheln, um die Angst zu vergessen, waren zwei völlig verschiedene Dinge.

Ich atmete tief durch. Dann setzte ich mich in Bewegung und stieg mit allen anderen Passagieren in das Schiff.

Spuren im SandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt