Zwanzig

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Ich traute meinen Ohren nicht. Hatte ich Tom da wirklich richtig verstanden? Bruder? Tom hatte vor mir niemals erwähnt, dass er einen Bruder hat. Warum nicht? Ich war zu tiefst enttäuscht. Vertraut er mir etwa nicht?

Ich guckte zu Tom, doch dieser blickte nur nach vorne. Dort hin, wo das Orakel stand. Seufzend tat ich es ihm also gleich. Ich riss die Augen auf und mir klappte der Mund auf. Dort wo eben noch die große Gestalt aus Licht stand war nun ein großer Bilderrahmen, auch ganz aus weißem Licht. In ihm sah ich eine Person. Moment? Ist dass der Bruder von...

Ich schluckte, nein, ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke. Das konnte nicht sein, nein, dass durfte einfach nicht wahr sein! Doch dieses Gesicht. Ich kannte es. Schon an meinem ersten Tag am Schiff hatte ich unbewusst die beiden miteinander verglichen. Dass sie aber wirklich Brüder sind, damit hätte ich niemals im Leben gerechnet.

Doch es gab keinen Zweifel. Dort im weißen Lichtrahmen war er abgebildet. „Das ist Jack." Meine Stimme war leise und erstickt, so, als hätte ich seit Stunden nicht mehr geredet.

Plötzlich löste sich der Lichtrahmen wieder auf und das Orakel stand wieder vor uns. „Warte. Wer?" Tom guckte mich verblüfft an. Zog seine Augenbrauen fragend zusammen. Ich nickte wild mit dem Kopf. „Das ist Jack.", sagte ich noch einmal. Dieses Mal mit festerer Stimme. Tom schien gar nicht mehr mitzukommen. „Du kennst ihn?" Er kam einen Schritt auf mich zu. Ich nickte. „Ja, Jack war damals mein bester Freund." Tom schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber mein Bruder heißt nicht Jack.", meinte er wie in Trance. Er guckte zwischen dem Orakel und mir hin und her, dann schüttelte er den Kopf, so als wolle er alle komischen, verwirrenden Gedanken aus seinem Kopf schütteln. Er straffte die Schultern und guckte selbstsicher. „Gut. Wir brechen auf."

Tom drehte sich noch einmal zu dem Orakel um und verbeugte sich. Die helle Stimme der lichtdurchfluteten Frau hallte durch die ganze Höhle. „Viel Glück, junger Pirat." Dann erlosch das Licht und wir standen im Dunkeln.

Den ganzen Weg zurück zum Schiff sprach Tom kein Wort mit mir. Aber das musste er auch nicht. Er war ganz bestimmt aufgewühlt und durcheinander.

Wir betraten wieder das große Schiff. Die Männer, die an Deck geblieben waren wollten natürlich wissen, wie es war und was nun herausgekommen ist. Tom jedoch ignorierte die Fragen gekonnt und rief sobald wir auf dem Deck wahren: „Segel setzen, klar zum Wenden!" Alle liefen los. Innerhalb weniger Minuten hatten wir das Schiff gewendet.

Tom sprach mit dem Steuermann den vorübergehenden Kurs ab. Dann zog er mich an der Hand in den Raum, rechts neben der Treppe.

„Ich denke du bist mir eine Erklärung schuldig, ei?" Ich guckte unbeholfen auf meine Füße dann setzte ich mich in Bewegung und setzte mich an den großen Tisch, der im Raum stand. Tom setzte sich mir gegenüber. „Wer ist Jack?", fragte Tom mit eiserner Stimme. Ich musterte die Maserung des Holztisches und guckte dann auf, da ich Toms Blick die ganze Zeit auf mir spüren konnte.

Er musterte mich mit undurchdringlichen Augen. „Was? Was willst du denn hören?", traute ich mich zu sagen. „Jack war damals mein bester Freund. Er hat mir immer sehr viel geholfen, und Vater auch." Meine Stimme brach zum Ende hin ab.

Ich räusperte mich einmal. „Naja und anscheinend ist Jack dein Bruder, den du nie auch nur mit einem Wort erwähnt hast." Toms Augen bohrten sich in mich, er musterte mich mit angespanntem Kiefer. „Mein Bruder heißt aber nicht Jack!", war das einzige, was er zwischen zusammengebissen Zähnen herausbrachte. „Ach ja? Und wie soll dann sein richtiger Name sein?" Ich zog eine Augenbraue hoch. „Bill.", antwortete Tom mir.

Ich schwieg. Jack wurde damals nie Bill genannt. Das war nicht sein richtiger Name. Was ist, wenn das Orakel uns angelogen hat? Würde es das überhaupt tun? Aber Jack und Tom sahen sich schon etwas ähnlich.

„Aber wie kommt es, dass er dann nicht hier bei dir ist? Woher kennst du dann seinen richtigen Namen? Warum hast du mir nichts von ihm erzählt? Und..." Ich brach ab. „Ich will dir gerne helfen Tom, aber du musst mich aufklären!"

„Oh nein, ich brauch deine Hilfe nicht!" WAS? Wütend stand er auf und schlug mit der Faust auf seinen Tisch. „Und es ist mir egal was du möchtest. Ich hab es ohne dich weit geschafft.", giftete er mich an. „Aber mit mir..." Tom unterbrach mich. „Nein! Hör auf! Ich werde dir ganz sicher nicht meine ganze Lebensgeschichte erzählen!" Mit diesen Worten drehte Tom sich um und verließ das Zimmer.

Ich verstand ihn nicht. Ich habe doch nie verlangt, dass er mir seine ganze Lebensgeschichte erzählt. Ich wollte doch nur ein paar Antworten auf meine Fragen und die hatte ich doch wohl auch verdient. Warum rastet er also gleich so aus? Kopfschüttelnd stand ich auf. Was war nur los mit ihm?

Trotzdem musste ich meiner Arbeit nachgehen. Ich durfte mich nicht von meinen Gefühlen leiten lassen und sauer auf Tom sein. Ich muss professionell bleiben. Am Abend werde ich einfach noch mal mit Tom reden.

Dadurch dass ich in der Nacht schon mit Tom Wache gehalten hatte war ich jetzt natürlich extrem müde, doch am Schiff brauchte man mich. Ich war gerade dabei ein Tau festzubinden als ich meinen Namen hörte. „Lucia!?" „Ei?" Schnell band ich den Knoten fest und drehte mich um. Tom stand vor mir. „Auf ein Wort." Ich zog die Augenbraue hoch folgte Tom aber schweigend.

Gegen meine Erwartungen steuerte er nicht die Tür zu seinem Zimmer an, sondern griff nach einem Seil, zog sich an diesem Hoch und begann das Netz was hoch zum Mast führte hochzuklettern. Ich folgte ihm.

Oben angekommen setzten wir uns auf den Querbalken. Der Wind pfeifte durch unsere Kleider, doch das störte weder ihn noch mich.

„Hör zu.", begann Tom plötzlich. Ich sah ihn an. „Es war nicht richtig von mir dich anzuschreien, aber..." „Nein, dass war es wirklich nicht.", unterbrach ich ihn. Er nickte. „Mein Vater, der Captain, er ist schwer krank." Ja, ich glaube das hatte Tom mir mal gesagt. „Wir glauben, dass er bald sterben wird und dann hab ich das Kommando auf diesem Schiff." Hat er das nicht jetzt auch schon? „Mein Vater... er sagt um ein guter Captain zu sein, darf ich nicht verletzbar sein und das Gefühle mich schwach machen." Ich riss die Augen auf. Aber das ist unmöglich!
„Aber ich kann meine Gefühle dir gegenüber nicht verbergen und einfach wegschließen, wie einen Schatz und im Meer versenken. Das geht bei dir nicht." Ich schluckte. „Ich denke das ist normal. So etwas nennt man Liebe."

Tom schwieg eine ganze Weile. „Wo geht es jetzt hin?", fragte ich ihn vorsichtig. Er wirkte ziemlich durcheinander. „Ich werde meinen Bruder besuchen fahren." Glücklich sprang ich auf. Ich hatte schon befürchtet er würde nicht weiter nach seinem Bruder suchen, da er wusste dass es Jack war. „Das heißt ich halte auch gleichzeitig mein Versprechen. Ich bringe dich nach Hause."

Ich sah auf die See, die Wellen unter dem Schiff, das Meer, dann hoch zur Sonne, schließlich wieder zurück zu Tom.

„Du bringst mich nicht nach Hause.", sagte ich fest entschlossen. Tom guckte mich verwundet an. „Mein Zuhause ist hier.", lachte ich glücklich. Tom entglitten alle Gesichtszüge. „Ich freu mich nur Vater wiederzusehen.", lachte ich ihn an.

Logbuch einer SchiffbrüchigenWhere stories live. Discover now