Einsamkeit

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Alleine stand er unter dem Baum. Die Hände zusammengefaltet und der Blick in die Ferne gerichtet. Er konnte noch immer nicht begreifen, was geschehen war. Seine Gefühle schienen die Situation noch nicht erfasst zu haben. Vollkommen regungslos stand er da und atmete die frische Luft ein.

Der Wind strich durch die Blätter des Baumes und lies sie leise rascheln. Wie ein Flüstern, das man hört, aber das doch zu flüchtig ist, als dass man die Worte genau verstehen könnte. Doch mit geschlossenen Augen klang es wie die warme Stimme, die er so oft vernommen hatte. Diese Stimme, die sein Herz erwärmt und sein Leben erfüllt hatte.

Von der Herbstzeit gefärbte Blätter fielen langsam vom Wind getragen hinab und bedeckten die frisch aufgehäufte Erde. Einer Decke gleich breiteten sie sich aus. Es blieb still. Keine Stimme war mehr zu hören.

Das soll es gewesen sein? Die ganze erlebte Zeit, die gemeinsamen Momente – stille Zweisamkeit am See, freudiges Lachen auf dem Markt, der tiefe und herzerwärmende Blick – sollten nur noch Erinnerungen sein? War es denn möglich, dass er nie wieder die Umarmung, die geschmeidige Hand auf der Wange, nie wieder den unergründlichen Blick in ihren Augen erleben sollte? Er konnte nicht erfassen, dass die Zeit vorbei sein sollte und er sie nie wieder sehen würde. Nie wieder würde er ihre Stimme hören. All die anderen Leute redeten und lebten wie zuvor. Nur sie war fort. Es war, als hätte man alles Bedeutende aus seinem Leben gerissen.

Er begann leicht zu zittern. Er blinzelte schnell mehrmals hintereinander, um die Tränen zurückzuhalten, doch es half nicht. Langsam liefen sie über seine Wangen. Er kniete nieder und fasste in das Gras. Er spürte es, saftig und frisch. Seine Finger strichen sanft über das Grün und er erinnerte sich an die vielen Male, als er ihre Haut gestreichelt hatte. Und das sollten von nun an nur noch Erinnerungen sein? War das überhaupt noch Wirklichkeit? Was halfen Erinnerungen, wenn er sie nie wieder sehen, nie wieder festhalten, nie wieder würde Lachen hören? Was sollte alles bringen, wenn die Vergangenheit nicht wieder zurückzuholen ist. Sie erscheint in den Erinnerungen grade gegenwärtig genug, um Schmerz und Sehnsucht zu erzeugen. Wie sollte er denn Freude statt Trauer an all die schönen Zeiten empfinden, wenn er wusste, dass sie nie wiederkehren würden?

Die Baumkrone raschelte leise im Wind. Ein Blatt fiel herab und strich leicht über seine Wange. Er blinzelte. Da war sie wieder, die Gegenwart, die Einsamkeit. Wenn er ihr doch nur einen letzten Kuss hätte geben können. Wenn er ihr doch nur noch einmal hätte sagen können, was er für sie empfand. Doch was dann? Sie hatte es gewusst, sie hätte genau gewusst, welchen Schmerz ihr Verschwinden auslösen würde. Was hätte ihm ein letzter Kuss gebracht? Es wäre doch nur wieder eine weitere Erinnerung, die sein Herz weiter mit Trauer füllen würde. Er wünschte es sich trotzdem. Er wünschte es sich jetzt. Es war ihm gleich, welchen zusätzlichen Schmerz es ihm danach bringen würde, wenn er sie nur noch einmal sehen, nur noch einmal berühren könnte.

Doch es war vorbei. Sie war fort und er blieb alleine zurück. Das Leben lief weiter und er musste ihm folgen. Doch es fühlte sich wie Verrat an, wenn er nur daran dachte, zurück in den Alltag zu gehen und sie zurückzulassen. Wie konnte er ohne sie weitermachen, ohne seine Liebe zu ihr zu verleugnen? Wie konnte er sie nicht verleugnen, wenn er dem Leben folgen und sie zurücklassen musste? War es möglich, weiterzuleben, ohne sie zu vergessen? Vielleicht konnte er seine Trauer verdrängen und all die schönen Erinnerungen behalten. Das Leben könnte weitergehen und er würde mit ihr im Herzen voranschreiten. Das wäre etwas. Doch es gelang ihm nicht, die Trauer in sich zu kontrollieren. Dafür war sie zu stark, zu frisch. Wie könnte er behaupten, sie zu lieben, wenn er nun keine Trauer empfand? Was gäbe er dafür, um mit ihr zu reden.

Doch das würde er nie wieder. Er blieb alleine zurück. Einsam.

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