Blut im Schnee

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Kapitel 2 - Blut im Schnee

Der Wind heulte wie ein zorniger Gott, seine himmlische Vergeltung gegen die beiden Gestalten schickend, welche es wagten, zu dieser Stunde über den Schnee zu wandeln. Die Nacht war eine lange gewesen - das Morgenrot nichts weiter als ein Blutspritzer am Horizont, das Licht des Tages noch etwas hin. Nichtsdestotrotz krochen langsam aber sicher Lichtstrahlen durch die schweren Wolken und Nox beobachtete das Schauspiel mit Argwohn.
,,Ich hatte gehofft, wir würden es bis Tagesanbruch schaffen."
Geist, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, erwiderte: ,,Das hätten wir auch, wäre der Sturm nicht dazwischen gekommen. Bete zu den Aspekten, das wir Glück haben und uns die Eisgiganten nicht bemerken."
Der in schwarz gekleidete Mann schnaubte belustigt. Seine Begleiterin warf ihm einen verwunderten Blick zu, bis etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Vor ihr ragten eine Reihe Eiskristalle in den Himmel, bedeckt mit Schrift, grobe Silben einer verlorenen Sprache, eingehackt in die Oberfläche.
,,Da vorne - ich kann die Eismonolithen schon sehen. Bald müssten wir aus ihrem Revier raus sein."
Ein paar Minuten später passierten sie die Landmarke, dahinter ein weiterer Streifen Eiswüste, soweit das Auge reichte.
So wanderten sie, bis die Sonne schließlich am Himmel stand, bleich gegen den Schleier des Schneegestöbers.
,Dieser verdammte Sturm", knurrte Nox.
In diesem Moment erklang ein Brüllen, das selbst jenes des Windes übertönte.Ein zweites antwortete, dann ein drittes. Ein Umriss erhob sich in der Ferne, höher und höher, bis er die Sonne verdeckte. Die Eisgiganten waren erwacht, verlorene Seelen verflucht vom Eis.
Geist fluchte auf lumenitisch, ein sicheres Anzeichen dafür, das etwas gewaltig schieflief - für den Fall, dass das Auftauchen der drei Eisgiganten nicht Beweis genug war.
,,Was tun sie so weit hier draußen? Wir sollten schon lange durch ihr Revier hindurch sein", rief Geist Nox zu.
Dieser hielt für einen Moment inne, Blick fixiert auf einen Punkt am Himmelsrand.
,,Blut", sagte er nur. ,,Sie riechen das Blut."
Die Assassine erstarrte ebenfalls. All ihre Sinne, geschärft durch die langen Jahre in ihrer Profession, schrien sie an, zu fliehen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Maya noch am Leben war, oder ob ihre Leiche bereits erkaltete, war unterirdisch. Jedoch, Verbündete - nein, Freunde - waren ein seltenes Gut wenn man ein Assassine war, ein Gut das es zu erhalten galt. Mehr als das - sie würde es sich nie verzeihen, wenn sie es nicht wenigstens versuchte.
Also warf Geist ihre Vernunft über Bord und sah stumm zu, wie sie in den Fluten versank.
,,Maya."
,,Geist", sagte Nox. ,,Das ist Selbstmord."
Sie sah ihn an, das blaue Feuer erneut in ihren Augen.
,,Ja, das ist es. Aber du folgst mir trotzdem, nicht wahr?"
Beide wussten, was seine Antwort sein würde, noch bevor die Laute seine Lippen verließen.
,,Selbstverständlich."
Es gab nichts weiter hinzuzufügen.
Und je näher die Silhouetten der Eisgiganten gegen die bleiche Sonne kamen, desto stärker fand Geist ihren Willen aufflammen, ihre Schritte beflügelnd. Sie waren jetzt so nah, dass sie deren Gesichter ausmachen konnten, halb verdeckt von gehörnten Eisenhelmen aus einer anderen Zeit, was darunter lag mumifiziert von der Kälte. Ihre Atemwolken stiegen unter den Helmen hervor, schnell und tief wie die eines Tieres auf der Jagd.
Hinter ihnen konnte Geist eine kleine Höhle im Berg ausmachen, Teil der Bergkette die das Land des Nordens vom ewigen Eis trennte.
Der Schein eines Feuers flackerte darin wie ein Irrlicht.
Ihr Herz begann schneller zu schlagen.
Da drehten die Kreaturen sich um, und milchige Augen fixierten Geist und Nox.
Sie waren ein furchterregender Anblick.
Eis überzog ihre nordischen Rüstungen und Gliedmaßen  wie ein Parasit und schien mit ihrer grauen Haut verschmolzen zu sein, Eiszapfen ragten aus ihren Oberarmen heraus wie Speere.
Für eine Weile starrten die beiden Parteien einander an, regungslos.
Dann öffnete sich ein formloser Rachen unter langen, geflochtenen Bärten und sie stießen erneut ein Brüllen aus, ein fast menschlicher Kampfschrei, unterlegt mit etwas grauenvollem, verzerrendem. Wildes Haar peitschte im Wind, als eine zerbrochene Kriegsaxt in den Boden krachte, den Schnee aufwirbelnd. Doch Geist war bereits aus dem Blickfeld ihres Angreifers verschwunden und an dessen Flanke wieder aufgetaucht. Sie trug diesen Namen nicht umsonst.
Wenn sie wollte, war Geist nichts weiter als das - ein Gespenst, überall und nirgends, eine Person die nicht existierte.
Der Boden bebte unter ihren Füßen, als die zwei übrigen Eisgiganten näher kamen und die beiden Gestalten umringten, die eine hell wie ein Geist, der andere dunkel wie die Nacht.
Sie stieß die Luft aus. Sie gefror in der Kälte wie der Atem eines Frostdrachen.
Telynn hatte ihr einmal gesagt, dass sie die Gabe besaß, sich jeder Situation anzupassen. Anpassen und überleben.
Die Assassine sandte ihre Gedanken zu Nox.
,Wie ich vermutet habe, ihre Größe macht sie schwerfällig.'
,Wir mögen schneller sein, aber die Reichweite ihrer Waffen macht das wieder wett', warnte dieser und wich geschickt einem Axthieb aus, ein Schemen aus schwarzen Kleidungsfetzen.
Der Eisgigant grollte wütend. Es hallte durch Nox' Ohren wie Donner.
,Sobald wir Maya haben, verschwinden wir von hier', versicherte ihm Geist. Sie war sich der Gefahr bewusst, in der sie sich befanden.
Denn auch sie kannte die Geschichten, alte Legenden von den ruhmreichen Kriegern hoch im Norden, verdammt für immer durch die eisigen Lande zu wandern. Ein mächtiger Fluch, entsprungen dem Zorn einer betrogenen Zauberin, hatte sie in Untote verwandelt, ihre Körper unzerstörbar machend, während ihr Geist dem Wahnsinn verfiel. Ein Feind, der nur von animalischen Instinkten getrieben war, stellte normalerweise keine Lebensgefahr für Geist dar. Ihre Attacken hatten ein Muster - manche zielten auf die Kehle, andere auf den weichen, ungeschützten Bauch.
Was die Eisgiganten so gefährlich machte, war nicht nur ihre Körpergröße und die Wucht, die hinter ihren Attacken steckte. Es war ihre Unberechenbarkeit, die Geist Sorgen bereitete.
Doch das war nicht das Einzige.
Untote bluteten nicht.
Maya war verletzt - wie schwer?
,Wir müssen die Höhle erreichen. Sie können nicht den ganzen Berg zum Einsturz bringen.'
,Sie werden nicht verschwinden, solange sie das Blut riechen', gab Nox zu bedenken.
,Dann harren wir aus, bis die Nacht hereinbricht', schlug die Assassine vor. Letztendlich hatte sie mit ihrer Voreiligkeit nichts weiter erreicht, als Nox und sich in Gefahr zu bringen. 
Geist wich einem weiteren Hieb aus, was nur dazu führte, den Eisgigant noch mehr zu reizen. Er riss seine Axt vom Boden hoch und ein Graben blieb zurück, eine hässliche Wunde in der Erde.
In diesem Moment spürte sie von hinten einen Luftzug. Alarmiert wirbelte die Assassine herum und entkam haarscharf der Axt eines anderen Eisgiganten. Waren die Riesen vorher noch träge gewesen, so waren sie jetzt wie ergriffen von Blutrausch, ihre Angriffe immer brutaler.
Geist huschte zwischen den Beinen ihres Angreifers hindurch, Richtung Höhle.
,Länger halten wir das nicht durch', sandte sie zu Nox, ihr Atem schwer von der Anstrengung.
,Verstanden.'
Der rabenhaarige Mann fiel zurück. Etwas blitzte in der Sonne auf und Blutstropfen besudelten den Schnee wie Blütenblätter.
,,Kommt und holt mich", schrie er mit einem wilden Grinsen.  
Ein Zittern ging durch den massakrierten Boden, als sich alle drei Eisgiganten Nox zuwandten, Laute ausstoßend, die Geist einen Schauder über den Rücken jagten. Es klang, als würde der Tod selbst aus ihren Rachen klettern - sich windend, roh und verrenkt.
Eine kleiner Teil von ihr wunderte sich, warum die Giganten so viel heftiger auf Nox' Blut reagierten als auf Mayas. Der größere Teil jedoch war hin - und hergerissen zwischen Sorge und unerschütterlichem Vertrauen in den Gestaltwandler.
Letzteres gewann.
Als Geist den Eingang der Höhle erreichte, sah sie zurück. Nox hatte es fertig gebracht, die Eisgiganten abzuhängen, indem er sie geschickt ausmanövrierte, sodass sie sich gegenseitig in den Weg kamen.
Er ist unglaublich, dachte sie, ein wenig stolz.
Da bemerkte sie, wie einer der Riesen seine Axt zum Wurf erhob.
Geists Augen weiteten sich.
Er würde es nicht schaffen.
Sie sprang hervor und stieß Nox beiseite, sodass der Hieb ihn verfehlte, welcher ihn sonst halbiert hätte. Jedoch konnte sie nicht vermeiden, das die scharfe Kante der Axt ihre Vorderseite streifte.
Die Assassine hielt inne, verwirrt.
Dieser schwerelose Moment hielt allerdings nicht lange an.
Gleißender Schmerz schoss ihren Torso hinauf, brennend heiß wie Lava.
Ihr heller Schrei zerriss die kalte Luft.
,,Geist!"
Sie hörte Nox ihren Namen rufen und da packten sie zwei Hände und trugen sie fort.
Die Erde bebte um sie herum, doch sie sah nur den roten Schleier des Schmerzes, der sich über ihre Augen gelegt hatte.
Das Brüllen der Eisgiganten war jetzt so laut, das Geists Ohren klingelten, ein Laut der ohnmächtigen Wut. Dann war der eisige Wind um sie herum verschwunden. Je tiefer Nox sie in die Höhle trug, desto gedämpfter wurden die Geräusche der Außenwelt, wie ein Kokon aus pochendem Schmerz und der Gleichmäßigkeit seines Atems.
,,Du bist eine Narrin, Geist", murmelte er irgendwann, als deren Kopf wieder ein wenig klarer war.
Sie lächelte ein schwaches Lächeln.
,,Das sagst du jedes Mal."
Ihre Stimme brach und sie stöhnte leise, als eine erneute Schmerzenswelle durch ihren Torso fuhr. Es fühlte sich, als wäre ein Ungeheuer darin gefangen, das sich seinen Weg aus ihrem Inneren herauszukratzen versuchte.
Nox' Schultern versteifen sich bei dem Laut.
,,Ich war es, der dich hätte beschützen sollen, nicht umgekehrt."
Geist hasste die Schuld, die in seiner Stimme wucherte wie Unkraut.
Sie machte ein unwilliges Geräusch.
,,Wir sind ein Team. Ich bin keine hilflose Maid."
,,Nein, aber ich hasse es, wenn du wegen mir verletzt wirst."
Sie sah ihn an.
,,Da geht es mir nicht anders."
Hatte er wirklich von ihr erwartet, dass sie tatenlos zusah, wie er seinen letzten Atemzug tat, nur wenige Schritte entfernt von ihr? Nox war der Narr, wenn es das war, was er dachte.
Sie wartete auf eine Antwort, eine Rechtfertigung, irgendetwas.
Doch der Gestaltwandler schwieg.
Stattdessen verließen seine Augen die ihren und wanderten abschätzend über ihren blutbefleckten Torso. In dem schwachen Licht schienen sie noch dunkler, voll von Dingen die Geist nicht zuordnen konnte.
,,Es tut verdammt weh, aber die Wunde ist nicht sehr tief. Im Gegensatz zu deiner, hätte ich nicht eingegriffen", beantwortete sie seine unausgesprochene Frage und fügte dann mit belustigtem Unterton hinzu:
,,Ein Danke hätte mir auch gereicht."
Sein Blick blieb ernst, doch Geist könnte schwören, das sie Nox Mundwinkel zuckten sah. Da hob der rabenhaarige Mann den Kopf.
Die Assassine folgte seinem Blick.
Der Tunnel öffnete sich zu beiden Seiten in eine kleine Kammer, in dessen Zentrum ein Lagerfeuer vor sich hin brannte, ein Fell daneben ausgebreitet. Alles deutete darauf hin, dass hier noch bis vor kurzer Zeit jemand gewesen war, doch nun lag das Lager verlassen.
Geist runzelte die Stirn.
Hatte die Höhle noch einen anderen Ausgang?
Waren sie zu spät?
Da hörte Geist ein leises Knirschen, beinahe unmöglich von den restlichen Geräuschen ihrer Umgebung zu unterscheiden, wusste man nicht wonach man suchte. Doch Geists Sinne waren nicht so leicht zu täuschen, selbst wenn vernebelt von nicht enden wollendem Schmerz.
Ihr Blick flackerte zu Nox, und sie begriff. Doch es war zu spät.
Ein Schatten fiel von der Decke und landete auf den Schultern ihres Begleiters, langes Haar hinter ihm herwehend wie der Schweif eines Kometen.
Nox erstarrte in der Bewegung.
,,Wer bist du?", knurrte sie.
,,Maya. Stop", befahl Geist, Stimme scharf wie die Klinge an Nox' Kehle.
,,Er gehört zu mir."
Die junge Frau verengte die Augen und versuchte, deren Gesicht im Schein des Feuers auszumachen.
,,Gei-", begann sie überrascht, bevor Nox blitzschnell ihr Handgelenk packte.
,,Runter", sagte er nur, sein Tonfall deutlich machend, das er dies nur einmal tun würde.
Sie ließ ihn frei und er warf ihr einen Blick ebenso eisig wie die Haut der Eisgiganten zu, deren zorniges Heulen noch immer gegen den Stein hallte.
,,Nimm es mir nicht übel", sagte sie, während er Geist absetzte und ihr auf die Beine half.
Sie zuckte zusammen und lehnte gegen ihn, schwer atmend.
,,Nein, du hast dich richtig verhalten. Im Dämmerlicht konntest du unsere Identität nicht-"
Ein Schmerzenslaut entwich Geists Lippen und sie beugte sich vornüber. Ein weiteres Bruchstück der Legende um die nordischen Giganten driftete an die Oberfläche von Geists Gedächtnis. Ihre Waffen schlugen Wunden, die sich nie schlossen.
Maya war sofort an Geists Seite, doch hielt Abstand, unsicher.
Die verwundete Assassine spürte eine seltsame Energie von ihr ausgehen. Die Implikationen, die das mit sich brachte, ließen ihr Herz beinahe stärker Schmerzen als ihre Wunde.
,,Oh nein, sie haben dich erwischt? Es ist ein Wunder, das du noch lebst", hauchte sie erschrocken. ,,Leg dich hin, ich hole etwas zum verbinden."
Geist nickte schwach.
Nox half ihr, sich auf das Fell nahe dem Feuer zu legen, seine Hände ergriffen den Kragen ihres blutdurchtränkten Leinenhemdes und machten Anstalten, es zu öffnen.
Doch er zögerte.
Maya, beschäftigt mit dem durchsuchen ihrer Habseligkeiten, bemerkte seinen Zwiespalt nicht.
,,Geist?", wisperte er. ,,Sie wird es erfahren."
,,Es ist in Ordnung", sagte sie mit halb geschlossenen Augen, sich darauf konzentrierend nicht das Bewusstsein zu verlieren. ,,Maya, sie...", fügte sie dann leiser hinzu, ,,Sie hat nicht mehr lange. Du hast es auch gespürt, nicht wahr?"
Nox' Blick suchte ihren, seine schönen Augen dunkel und ernst. ,,Es tut mir leid", sagte er nur, doch es war mehr als genug. Geist war sich all der Dinge bewusst, die hinter dem simplen Ausdruck verborgen lagen.
,,Es ist in Ordnung", wiederholte sie und wusste, dass dies ebenfalls genug für Nox sein würde. Die Schnur, welche ihr Hemd zusammenhielt, löste sich unter den Fingern des rabenhaarigen Mannes und es glitt ihre Schultern herunter. Maya kniete sich neben ihnen nieder, ein in Streifen gerissenes Kleidungsstück und frische Kräuter in den Armen. Sie erstarrte jedoch in der Bewegung, als sie den Torso der verwundeten Assassine sah und sog scharf die Luft ein. ,,Mein Körper zieht die... Magie aus der Wunde. Sie wird sich bald schließen, aber sie muss trotzdem verbunden werden", kam Geist ihr zuvor. Maya sagte nichts und machte sich daran, die Bandage um Geists Brüste zu lösen, jedoch nicht bevor sie einen Blick über ihre Schulter zu Nox warf. ,,Schür das Feuer. In dem Sack dort drüben sind Zutaten für eine Suppe."
Er erhob sich wortlos, warf einen letzten Blick auf Geists totenbleiches Gesicht und tat, wie geheißen, den Rücken zu ihnen.
Die Bandagen fielen herab und Maya benutze den Teil, welcher nicht komplett blutgetränkt war, um die Wunde zu reinigen, zusammen mit einem Wasserbeutel.
Die Blutung war deutlich abgeschwächt, doch noch heftig genug, dass es Geist schwindelig vor Blutverlust machte.
,,Bist du dir sicher, das du der Person helfen willst, die geschickt wurde, um dich zu töten?", fragte sie Maya da mit schwacher Stimme.
Als die Wunde sauber war, reichte diese nach den Heilkräutern.
,,Bist du dir sicher, das ich meinen... meine Kommandantin hätte verbluten lassen sollen?", erwiderte sie und zerrieb die Kräuter mit einem Stein, um sie anschließend über die Wunde zu verteilen.
,,Hast du es geahnt?"
Maya schüttelte den Kopf, ihre rotblonden Haare hüpften mit. Sie hatten die Farbe des Sonnenuntergangs.
,,Ich kann verstehen, dass du es geheim gehalten hast. Dein Blut hat eine unheimliche Kraft. Eine Kraft, die viele begehren. Aber es ist eine Bürde, habe ich Recht?"
Geist dachte an ihre Schwestern, ihr Volk, deren Blut an den gläsernen Türmen geflossen war. An ihr schrecklich schönes Funkeln in der Sonne und das regenbogenfarbene Kaleidoskop, dass es auf ihre blassen Gesichter gemalt hatte.
Geist würde nie die Ringe aus blaugrünem Licht vergessen, emporgestiegen von diesen gläsernen Monumenten aus grauer Vorzeit, die über den Himmel jagten wie ein Rudel Wölfe.
,,Du wirkst nicht sehr überrascht", sagte sie schließlich, als Maya ihre Wunde verband.
Sie sprach, ohne aufzusehen.
,,Ich bin froh. Es bedeutet, das ich keine Gefahr für dich darstelle."
Geist beobachtete gedankenverloren, wie Mayas Finger über die Bandage tanzten.
,,Seit wann?", fragte sie dann.
,,Zwei Monde."
,,Und das, was du gestohlen hast, hat etwas damit zu tun."
,,Korrekt."
,,Du hast von Anfang an nicht damit gerechnet, das hier zu überleben."
,,Korrekt."
,,Du wolltest, das ich es bin, die es beendet."
,,...Korrekt."
Etwas wuchs in Geists Brust heran, ein Klumpen aus Tränen, Wut und Ohnmächtigkeit, der immer größer wurde, bis er sich aus ihrem Mund herauskämpfte und schließlich von ihren Lippen sprang wie ein Raubtier auf seine Beute.
,,Warum?"
Maya ließ die Hände sinken und betrachtete ihr Werk. Der Geruch nach Essen schwebte durch die steinerne Kammer.
Das Feuer knisterte leise.
Nox kam und reichte ihnen zwei Holzschalen voll dampfender Suppe.
Geist nahm sie dankbar, wenn auch in Gedanken versunken, entgegen und wärmte ihre Hände daran.
Er ließ sich neben ihr nieder, schweigend, ein Schatten mit einem Mantel wie Flügel.
Sie begannen zu essen und Maya warf ihm einen Blick zu.
,,Ein Geheimnis für ein Geheimnis, Geist", sagte sie dann und wandte sich an den rabenhaarigen Mann.
,,Wer bist du? Ich kenne dich nicht. Was bedeutet, ich traue dir nicht."
Bevor Geist etwas erwidern konnte, erfüllte Nox' samtige Stimme die Höhle.
,,Ich verstehe dein Misstrauen. Es war unhöflich von mir, das ich mich noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Nox - ich stehe im Dienst von Geists Familie. Ich bin an ihrer Seite, seit sie ein kleines Kind war. Du hast keinen Grund, mich zu fürchten."
,,Wie kann es dann sein, dass ich dich noch nie gesehen habe?", warf sie ein.
Nox antwortete nicht und streifte sich stattdessen die Gestalt der Krähe über - das war zumindest alles, was die begrenzte Kapazität ihrer Augen ihnen zu zeigen vermochte.
Mayas Augen weiteten sich.
,,Vielleicht habe ich die Frage falsch gestellt. Ich hätte fragen sollen, was du bist, nicht wer",  murmelte sie erstaunt, als Nox wieder humanoide Gestalt annahm.
,,Ich bin das, was Geist sich wünscht, das ich bin", erwiderte er nur schlicht. ,,Nicht mehr und nicht weniger als das."
Geist dagegen mochte diese Seite an dem rabenhaarigen Mann gar nicht, so unnahbar und professionell, fast wie sie, wenn sie ihrer Profession nachging. Er wirkte leer auf sie in diesen Momenten, wie ein Wesen, dass nur existierte um zu dienen. Er hatte sie über die Jahre hindurch perfektioniert, die Maske eines Dieners, doch sie wusste von dem Stolz darunter, der ihm zuflüsterte, sich niemals zu beugen, und seinem Drang nach Freiheit.
Er war, immerhin, ein Vogel.
Und Geist wunderte sich erneut, wie es ihrer Familie gelungen war, ein Geschöpf wie ihn an sich zu binden.
Maya hingegen schien sich mit der Antwort zufrieden zu geben. Es war etwas, dass Geist an ihr schätzte - sie bohrte nicht nach, sondern zog ihre Schlüsse im Stillen. Schließlich schien sie sich entschieden zu haben und sah Nox direkt in die Augen, ihr Blick suchend.
,,Ich bin mir nicht sicher, weshalb du so loyal Geist gegenüber bist... Aber, wenn du auf Geists Seite bist, dann bist du auch auf meiner", sagte sie.
Er erwiderte nichts, neigte nur leicht seinen Kopf in stiller Zustimmung.
,,Jetzt bist du an der Reihe, Maya", kam es leise von Geist.
Die rothaarige Assassine schlug ihre Augen nieder und nach und nach rieselten die Worte aus ihrem Mund, wie eine fast zerbrochene Sanduhr, deren Zeit bald aufgebraucht war.
,,All dieser Wahnsinn fand seinen Anfang, als ich noch ein kleines Mädchen war - keine Assassine, bloß die Tochter von Telynn der Bluthand. Telynn war nicht immer so, wie er jetzt ist. Es gab eine Zeit, in der er ein guter Vater war - so gut, wie es ein berüchtigter Assassine nur sein konnte.
Er erzählte die fantastischsten Geschichten, davon wie er einmal einen Faustkampf mit einem Seksharai ausgetragen hatte, oder wie er um Haaresbreite den Klauen eines Königsgreifen entronnen war. Jedes Mal, wenn er von einer Reise zurückkehrte, brachte er mir die kuriosesten Dinge mit - kleine, geschnitzte Figuren, bunte Talismane aus Kristallen, Bücher.
Es klingt wie die Fantasie eines einsamen kleinen Mädchens, aber ich weiß, dass es real war. Das der Telynn, den ich kannte, real war.
Und dann... dann kam der Tag, der alles veränderte. Mein Vater war schon länger im Gespräch für die Position des nächsten Großmeisters. Darum überraschte es niemanden, als er nach deren Tod zu ihrem Nachfolger aufstieg. Sein neuer Rang nahm ihn in Anspruch, die Geschichten wurden kürzer, die Geschenke seltener. Mein Vater selbst wurde kälter, unnahbar... fremd. Zum ersten Mal in meinem Leben verspürte ich Angst bei dem Gedanken, meinen eigenen Vater anzusprechen, seinen Blick auf mich zu lenken, weil seine Augen wie tot aussahen. Wir trieben immer weiter auseinander, als die Zeit verstrich und ich konnte mir nie erklären, wie sich mein Vater nur so verändern konnte.
Bis vor zwei Monden.
Wenn ich nicht schlafen konnte, wanderte ich oft nachts in der Kathedrale umher, ohne ein bestimmtes Ziel. In jener Nacht aber führte mich mein Weg aus irgendeinem Grund zur Kammer meines Vaters. Ich war kurz davor zu klopfen, als mich der Mut wieder verließ und ich mich wunderte, was ich hier überhaupt tat.
Aber dann hörte ich ihn mit jemandem sprechen. Zuerst war da nur seine Stimme, leise und langsam. Dann antwortete eine andere, weibliche, die einmal sehr schön gewesen sein musste. Jetzt jedoch schwang etwas anderes in dieser Stimme mit, ja, lebte in ihr, verborgen, sich windend und pulsierend wie eine grauenhafte Kreatur."
Maya schauderte bei der Erinnerung. Ihre Hände bebten um die Schale herum, beinahe den Rest der Suppe darin verschüttend.
,,Ich kann es nicht beschreiben, aber ihr Klang rief einen Terror in mir hervor, den ich so noch nie zuvor gespürt hatte. Alles in mir schrie mich an, dass diese Stimme und ihre Besitzerin nicht hier sein sollte - durfte -, das etwas verkehrt war. ,Du würdest mich niemals hintergehen, würdest du, Telynn?', sagte sie und ihr Ton war seltsam, wie die letzte Hoffnung eines Ertrinkenden gepaart mit der Unberechenbarkeit eines verwundeten Raubtieres. 
Ich hörte meinen Vater wie hypnotisiert murmeln: ,Niemals, niemals würde ich Euch hintergehen.'
,Du gehörst mir, richtig, Telynn?"
,Nur Euch, nur Euch.'
,Du bist mein.'
,Ja, Herrin. Ich bin Euer.'
Mir musste in diesem Moment ein Laut entwichen sein, denn die Stimmen erstarben abrupt. Stattdessen flog die Tür auf, so heftig, das sie gegen die Wand krachte und mir führ ein heulender Windstoß entgegen, der mich beinahe von den Füßen riss. Vor mir stand mein Vater und über ihm schwebte..." Maya brach ab. Sie zitterte nun so heftig, dass ihre Zähne aufeinander schlugen. Die Holzschale in ihren Händen fiel auf den Boden und der Inhalt verteilte sich über den Stein.
,,Maya?", fragte Geist alarmiert.
Maya antwortete nicht. Ihr Brustkorb zuckte brutal, als ihr Körper verzweifelt versuchte, mehr Luft herbeizuschaffen. Ihre grünen Augen wurden glasig, gerichtet auf etwas, dass in weiter Ferne lag.
Dann schrie sie.
Es war ein rauer, animalischer Laut, von einer Sorte, wie ihn Geist bisher nur ein einziges Mal in ihrem Leben gehört hatte - dem Mund eines sterbenden Mannes entrissen, der von unzähligen Zähnen zerfleischt wurde. Leise Schluchzer stiegen ihre Kehle herauf.
Geist rief erneut ihren Namen, doch sie schien es nicht zu hören. Da erhob sich Nox und trat vor die rothaarige Assassine, in seinem schwarzen Umhang wie ein Botschafter des Todes. Er legte seine feingliedrige Hand auf ihre Augen und flüsterte: ,,Komm zurück, Maya." 
Maya hob ihre eigenen panisch und ihre Fingernägel zogen blutige Spuren über Nox' Handrücken, als sie versuchte, sich zu befreien. Doch er schien es nicht zu bemerken.
,,Lass dich nicht davon beherrschen."
Sein Tonfall war sanft.
Langsam beruhigten sich ihre zitternden Gliedmaßen, bis sie ganz still wurde, abgesehen von einzelnen, beinahe lautlosen Schluchzern. Als Nox sie losließ, hatte sie sich wieder beruhigt.
,,Maya? Maya, bist du in Ordnung?", fragte Geist besorgt.
Als Maya erneut sprach, war ihre Stimme ein Krächzen und ihre Augen vor Konzentration geschlossen.
,,Hör zu. Ich habe nicht viel Zeit übrig. Das, was du suchst, ist an Larks Grab versteckt. Mein Vater verschwendet keinen Gedanken an solche Sentimentalitäten... nicht mehr. Er würde es niemals dort vermuten."
,,Diese... Frau war es, die dich mit Syn infiziert hat, habe ich Recht? Und dein Vater ließ es passieren.", sagte Geist, ihre Stimme bebend mit unterdrückter Wut. Maya war dem Tod geweiht und eine potentielle Gefahr für sie alle. Syn verbreitete sich wie ein Lauffeuer - es musste an Geists Präsenz gelegen haben, dass es das bisher noch nicht getan hatte.
Sie hörte erneut die Stimme ihrer Mutter, eine halb vergrabene Erinnerung, die von der Potenz des Blutes sprach, welches in den Adern einer jeden Lumeniterin floss, das jegliche Magie und sogar Syn selbst verschlang, wie ein unersättlicher scharlachroter Rachen.
,,Ich kann dich noch retten. Ich kann dir mein Blut geben. Du könntest noch lange Zeit leben, vielleicht nicht so lange wie als nicht-Synner, aber lange genug."
Maya schüttelte nur erschöpft den Kopf.
,,Und langsam zusehen, wie Syn meinen Körper frisst und schließlich meinen Verstand? In ständiger Angst zu leben? Nein, Geist, ich werde dich nicht zur Verlängerung meines Lebens missbrauchen."
Geists Torso ging erneut in Flammen auf, ein heißer Stich fuhr wie ein Pfeil durch ihre Brust. Oder war es ihr Herz, dass schmerzte, als würde es zerbrechen?
Sie holte tief Luft, rief sich zur Ruhe auf.
Es gab einen Weg aus dieser Situation, es gab immer einen.
,,Und wenn ich es dir befehle? Ich bin deine Kommandantin."
Ihre Augen funkelten hart wie der Stein, der sie umgab. Als Maya sie endlich ansah, kämpfte Schuld mit Entschlossenheit in den ihren.
Es war eine blutige Schlacht, in der letzteres schließlich triumphierte.
,,Ich nehme keine Befehle mehr von dir entgegen. Ich bin nicht mehr Teil der Bruderschaft."
Ihre Entschlossenheit prallte auf unnachgiebigen Stein und wich nicht zurück.
Und da bröckelte dieser, Stück für Stück, fiel Geists Wimpern herab, zu Wasser geworden.
Die verwundete Assassine schloss die Augen.
,,Du sture Tochter eines Giftteufels", sagte sie leise.
Ihre Brauen zogen sich zusammen.
,,Zeig sie mir."
Maya rollte wortlos ihr linkes Hosenbein hoch und offenbarte eine hässliche Wunde, aus der zähes, fast schwarzes Blut quoll. Geist blinzelte und in der nächsten Sekunde war sie verheilt. Sie blinzelte erneut und die Wunde war wieder da, kaum ein paar Minuten alt. Ein weiteres blinzeln und es war nur noch eine Narbe zu sehen. Ihre Adern traten unter der Haut hervor, schwarz wie gefüllt mit flüssiger Dunkelheit. Sie verschwanden unter dem hochgekrempelten Hosenbein und ihren Schuhen. Geist konnte nur vermuten, das sie sich über ihr ganzes Bein zogen, vielleicht mehr. Die Ränder der Verletzung selbst schien zu verschwinden und wieder aufzutauchen, als würde sie weder ganz in dieser Realität existieren, noch in einer anderen. Es war Syn, das in dieser Wunde hauste wie ein Parasit, die Plage dieser Welt seit deren Anbeginn, das Raum und Zeit auffraß und verzerrte.
,,Bitte, Geist", flüsterte sie. ,,Ich will nicht zu einem Echo werden."
Geist biss sich auf die Lippe und antwortete nicht. Maya ließ den Stoff wieder über ihr Bein fallen und nahm Geists Hand. Ihre Fingerspitzen streiften etwas Kühles, als Maya etwas hineinlegte und deren Faust darum schloss. Es war ihr Dolch. Ohne zu zögern führte sie Geists Hand zu ihrer Brust, sodass die Klinge auf das Herz der rothaarigen Assassine gerichtet war.
,,Sieh mich einfach als eine deiner Ziele an. Nur ein namenloses Gesicht. Ein Auftrag, der erfüllt werden muss."
,,Du weißt, ich könnte das niemals tun", zischte Geist mit brüchiger Stimme und versuchte vergeblich, ihren Arm zurückzuziehen.
,,Dann tu es für mich."
,,Maya-"
,,Es tut mir Leid. Ich weiß es ist egoistisch von mir, aber... Du bist mein bester Freund - oder Freundin, schätze ich, aber das ändert nichts daran - und mein Kommandant. Wenn jemand das Recht dazu haben sollte, bist du es."
Schwarze Adern hoben sich auf Mayas Kehle hervor und krochen ihre Wangen hinauf. Sie erreichten ihr linkes Auge und umfingen die traurige, grüne Pupille darin. Sie schien es nicht zu bemerken.
,,Es ist zu weit fortgeschritten", sagte Nox im Kopf der weißhaarigen Assassine. ,,Wärst du nicht hier, dann wäre sie jetzt schon lange ein Echo."
,,Sag mir deinen echten Namen", sagte Maya da plötzlich. Eine seltsame Ruhe lag in ihrer Stimme. Geist antwortete, ein wenig verwirrt: ,,Astea."
Die rothaarige Assassine lächelte.
,,Schwalbe. Es passt zu dir."
,,Du sprichst Lumenisch?"
,,Mein Vater hat mir ein wenig beigebracht. Er war in Nova für ein paar Monde."
Sie hielt inne. Die feinen Adern in ihrem rechten Auge wurden schwarz. Ihr Umriss begann auszufransen wie Geists zerschlissener blauer Umhang. Dann würde ihr Lächeln wärmer, konkurrierend mit der Sonne, die weit weg von hier auf grüne Wiesen und im Wind rauschende Wälder schien.
,,Astea. Töte mich."
Ihre Stimme spaltete sich, wurde gleichzeitig die eines alten Mannes und eines kleinen Mädchens, einer Frau und eines Jünglings. Die Tränen in ihren schwarz gesprenkelten Augen vetrockneten und fielen erneut hinab. Kaltes Grauen kroch Geists Wirbelsäule hinauf.
Aus weiter Ferne hörte sie Nox ihren Namen rufen, doch der Sog vor ihr war stärker. Sie ging darauf zu und fühlte sich, als würde sie auf einem schmalen Grad zwischen Verrücktheit und Ohnmacht wandeln, jeden Moment im Begriff, zu fallen. Vor ihren Augen löste sich das Gewebe der Realität selbst auf, sich entrollend wie ein Seil, und es öffnete sich eine unaufhörlich drehende Abwärtsspirale wie eine fremdartige Blüte, deren Zentrum nichts als puren Wahnsinn versprach. Sie wusste nicht einmal, was es genau war, das sie da ansah. Oder ob es war. War sie?
Mit einem Aufschrei stieß Geist die Klinge vorwärts. Es war, als riss sie Raum und Zeit entzwei. Alles konzentrierte sich auf einen Punkt, auf Mayas Herz, und die Spirale kam kreischend und Funken sprühend zu einem Halt, wie ein gigantisches Uhrwerk, bis es sich in die entgegengesetzte Richtung erneut anfing zu drehen. Wie ein Mahlstrom saugte es alles in sich auf, was sie zuvor ausgespien hatte, bis nur noch Mayas lebloser Körper übrig blieb und der Dolch, welcher bis zum Heft in ihre Brust getrieben war. Geist ließ dessen Griff los, als hätte sie sich verbrannt. Stattdessen vergrub sie ihre Hände in den Haaren, Finger eng um die weißen Strähnen gewunden, als müsste sie sich an etwas festhalten, das real war. Denn Stück für Stück rutschte der Boden unter ihren Füßen weg, bis sie glaubte zu fallen, in einen Abgrund ohne Ende. Das, was einmal Maya gewesen war, zersprang vor ihren Augen wie ein Spiegel, die Scherben verweht von einem mysteriösen Wind, glitzernd wie Sternenstaub.
Ein leiser, gequälter Laut stieg Geists Kehle empor. Sie hatte viele Kameraden verloren, Freunde sogar, und ihre eigenen Hände waren besudelt mit Blut, jedoch nie auf diese grauenvolle Art und Weise.
Es brach ihr Herz entzwei.
Es war eine widerwärtige Tat, ein Akt der Zerstörung. Und es war Telynn, der für all dies verantwortlich war. Geists Verzweiflung wandelte sich in siedende Wut innerhalb eines Wimpernschlags. Es war einfacher. Einfacher, als zu realisieren, was sie getan hatte. Oder das Maya nie wieder zurückkehren würde.
,,Ich bringe ihn um", presste sie zwischen gefletschten Zähnen hindurch, ihr Blut brodelnd. Sie ignorierte die Schmerzen und den metallischen Geschmack von Blut auf ihrer Zunge, als sie sich aufrichtete und Anstalten machte, in den Schneesturm hinauszuwandern. Sie dachte nicht einmal mehr nach - es existierte nur das Brennen in ihren Adern und der Schrei nach Vergeltung in ihrem Kopf.
Da legte sich ein Umhang aus Nacht über sie, als Nox einen Arm um ihre Schulter schlang und ihre Augen bedeckte, so wie er es auch mit Maya getan hatte, jetzt so weit weg, das es Geist wie Jahrzehnte erschien.
,,Schlaf", sagte er schlicht.
Geists Körper wurde schwer und egal wie ruhelos ihr Verstand war, oder wie unaufhaltsam die heißen Tränen, die lautlos aus ihren Augen quollen, der Drang zu schlafen war stärker.
Ihr Hass versiegte, trat zurück in die dunkelste Ecke ihres Bewusstseins.
Da war etwas in Nox' Stimme, das sie dazu brachte, ihre Augen zu schließen und sich widerstandslos von ihm führen zu lassen.
In den Schlaf gewiegt von dem gleichmäßigen Pochen ihrer Wunde und den dumpfen Lauten der Eisgiganten draußen im Schneesturm, träumte sie von Maya. In ihren Träumen versank sie in zäher, sumpfiger Dunkelheit, ihre Tränen aus Krähenfedern.

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⏰ Last updated: Nov 27, 2017 ⏰

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