Immer.

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Der erste Blick fühlte sich wie ein Schlag in den Magen an. Er konnte es nicht glauben. Nach all den Jahren... Sie schien keinen Tag gealtert zu sein. Das dunkelrote Haar fiel ihr immer noch in Locken um die Schultern, und ihr Lächeln war genau das gleiche geblieben. Dieses sanfte Zucken der Mundwinkel, und die unendliche Liebe, die sich in ihren Augen spiegelte... Doch das konnte nicht sein. So hatte sie ihn nie angeblickt. Dankbar, ja. Freundlich, verspielt, ernst, ... Aber niemals liebend.

Er streckte zweifelnd die Finger aus, konnte kaum glauben, was er sah, denn es konnte nicht wahr sein. Lily war weg, sie war tot, wie konnte sie ihn dann ansehen... Ansehen, wie sie immer nur Potter angesehen hatte? Als ob alles vergeben wäre, alles vergessen, als hätte sie ihm niemals den Rücken zugekehrt. Als wäre sie niemals von dieser Erde gegangen.

Er wurde verrückt. Das war die einzig mögliche Erklärung. Hatten all die Schuld, all die Trauer und der Schmerz ihn vollends in den Wahnsinn getrieben? Hatte sein Geist beschlossen, mit dem Leid nicht mehr umgehen zu können, und sich vollends zu verabschieden? In einen Himmel, in dem Lily sich für ihn entschieden hatte?

Wenn es Wahnsinn war, dann war es ihm in diesem Augenblick egal. Er würde alles tun, alles, um bei ihr sein zu können, um ihr Lächeln wieder sehen zu können, ihre Stimme wieder zu hören. Selbst wenn es in einem Fiebertraum geschah, so konnte er ihr wenigstens in dieser Illusion nahe sein... Konnte ihr sagen, wie sehr, wie sehr es ihm leidtat. Wie er bereute, und wie er sie sein ganzes Leben lang immer nur geliebt hatte... Wenn sie ihm nur zuhören würde, wenn sie ihm selbst nur in seiner Fantasie vergeben könnte... Dann würde er Zwangsjacken und Zaubertränke und Einkerkerung im St. Mungos in Kauf nehmen.

Er machte noch einen weiteren Schritt nach vorne, und stieß einen überraschten Schrei aus, als seine Finger auf Spiegelglas trafen. Einen furchtbaren Moment fürchtete er, sie durch diesen Zusammenstoß verjagt zu haben, doch das Glas vibrierte nur sanft, und schließlich glättete sich das Bild wieder. Sie blickte ihn immer noch an, die Augen voller Zuneigung, die Lippen sanft geöffnet, als wollte sie etwas sagen, aber würde die richtigen Worte nicht finden.

Severus sank ohne einen Laut von sich zu geben zu Boden, seine Beine hatten unter ihm nachgegeben. Er legte eine Hand an das Glas, und meinte schon fast ihre warmen Finger zu spüren, die sich von der anderen Seite gegen seine pressten. Eine Träne rollte seine Wange hinab, und breitete sich anschließend wie ein Stern auf seinem schwarzen Umhang aus. Weitere folgten, bis sein Gesicht starr wurde von all dem Salz, und er ihr Gesicht nur noch verschwommen erkennen konnte... Er wollte sich zusammenreißen, wollte nicht einen Moment verschwenden, in dem diese kostbare Illusion anhielt. Und doch konnte er nicht aufhören zu weinen, als eine neue Welle der Reue und des Verlusts über ihn hinwegrollte.

So verbrachte er die Nacht dort, blieb zusammengekauert am Steinboden des verlassenen Zimmers liegen, und wandte seine Augen kein einziges Mal ab. Lily wich nicht von seiner Seite, wachte über ihn, und obwohl ihr sanfter Blick auch Heilung brachte, fühlte er sich gleichzeitig wie eine Strafe an, die ihm mit jedem Moment aufs Neue das Herz brach.

In den frühen Morgenstunden schlug er nur für einen kurzen, erholsamen Augenblick die Augen zu – und als er sie wieder öffnete, zuckte er erschrocken zurück. Neben ihm stand Albus Dumbledore, der ihn mit einem beunruhigten Blick musterte.

„Severus." Seine Stimme war ruhig wie immer, doch seine Augen verrieten tiefe Besorgnis. „Wie ich sehe, haben Sie den Spiegel Nerhegeb entdeckt." Severus warf einen panischen Blick zu seiner Rechten, doch Lily war unverändert bei ihm geblieben. „Schulleiter." Er rappelte sich vom Boden auf, putzte sich den Staub von der Robe, aber versuchte nicht einmal in Dumbledores Gegenwart einen würdevollen Gesichtsausdruck beizubehalten. Er war immer noch bis ins Mark erschüttert.

„Werde ich verrückt?" Severus Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, und ein Unterton von Angst und Erwartung gleichermaßen hatte sich eingeschlichen. Die Tatsache, dass Dumbledore den Spiegel offenbar ebenfalls sehen konnte, ließ ihn hoffen, dass er nicht völlig wahnsinnig geworden war. Aber gleichzeitig kam er nicht umhin zu denken, wie wunderbar es wäre, wenn er Lily für immer an seiner Seite behalten könnte... Egal, ob sie real war oder nicht.

Zu Severus' Erleichterung schüttelte Dumbledore den Kopf. „Nein. Der Spiegel Nerhegeb zeigt Ihnen schlichtweg den tiefsten, verzweifeltsten Wunsch Ihres Herzens – egal, wie unmöglich er ist." Severus nickte. Widersprüchliche Gefühle tobten in ihm – und die Mischung aus Enttäuschung und Sehnsucht musste sich allzu deutlich auf seinem Gesicht abzeichnen.

„Severus..." Begann Dumbledore. „Ich werde Sie nicht fragen, was Sie in dem Spiegel gesehen haben. Ich werde Sie jedoch davor warnen, allzu viel Zeit vor ihm zu verbringen. Nerhegeb gibt uns weder Wahrheit noch Zukunft. In vielerlei Hinsicht ist er ein außergewöhnlich perfides magisches Instrument... Er lässt unsere Träume vor unseren Augen scheinbar wahr werden, ohne uns irgendeine Chance auf reale Erfüllung zu geben. Viele sind bei der Betrachtung dieses Spiegels dem Wahnsinn verfallen, und ich hoffe sehr, dass Sie diesen Träumern nicht folgen werden. Hogwarts braucht Sie."

Severus begann, vom Scheitel bis zur Sohle zu zittern. „Sie haben Recht, Dumbledore... Die Aussicht ist in der Tat verführerisch. Ich könnte einfach bleiben... Mir ihr Gesicht für immer ansehen..." Seine Stimme verlor sich im Nichts. Er fühlte sich krank. Die Nacht auf dem kalten Steinboden hatte sicherlich dazu beigetragen, doch es war nicht nur das. Er spürte eine Müdigkeit und Sehnsucht, tief in seinen Knochen, eine lange verborgene Narbe, der nun wieder aufgebrochen war, und so schmerzhaft ausblutete wie am ersten Tag.

Für einen letzten Moment sog er das Bild von Lilys Gesicht ein. Memorierte jedes einzelne Detail, prägte sich diesen unendlich liebenden, verfluchten Blick in ihren Augen ein. Fuhr mit seinen Augen jeden Zentimeter ihres Körpers ab, und glaubte beinahe, ihre Präsenz neben sich spüren zu können.

Dann wandte er ihr abrupt den Rücken zu – mit einer langsamen Drehung hätte er es nicht geschafft. „Sorgen Sie dafür, dass ich diesen Spiegel niemals wiederfinde, Dumbledore." Damit verließ er den Raum. Mit jedem Schritt, den er tat, wurde ihm ein wenig kälter. Mit jedem Moment steigerten sich die Versuchung und die Sehnsucht bis ins unendliche, und noch höher. Und doch ging er weiter – denn er hatte eine Aufgabe unter den Lebenden zu vollbringen.

Lily Evans war tot, und egal wie sehr er sich das Gegenteil wünschte, er durfte der Fantasie nicht nachgeben. Zu süß wäre die Versuchung, ihrem Sirenenschrei doch noch auf die andere Seite zu folgen – für die minimale Chance, bei ihr zu sein. Ob im Wahne in dieser Welt, oder im Tod in der nächsten – er wäre zu glücklich damit gewesen, an ihrer Seite zu bleiben.

Er hätte alles vergessen, sich dieser Fantasie voll und ganz gewidmet – und gleichzeitig Lilys Sohn im Stich gelassen. Und sie damit ein weiteres Mal enttäuscht.

Das konnte er nicht noch einmal tun. Er hatte sie verletzt, sie beschimpft und verraten... Und nun konnte er es sich nicht erlauben, einem Traum nachzuhängen, der schon lange vorbei war.

Er konnte sie nur lieben.

Immer. 

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