"Jaaa, Mama, er wird gut auf mich aufpassen!", grummle ich zum gefühlt einundachtzigsten Mal in zehn Minuten. Wie erwartet sind meine Eltern nicht gerade die sprühende Begeisterung, als ich ihnen von meinen Auswanderungsplänen erzähle. Wobei mein Vater es eigentlich ganz gelassen nimmt. Er meint, er wäre in seiner Jugend auch viel und gerne gereist. Nach Hessen. Hessen und Finnland ist ja auch fast das gleiche. Aber solange er mir nicht meine Pläne durchkreuzt, kann er meinet wegen so viel von der Hessischen Provinz erzählen, wie er will. Meine Mutter ist weniger leicht zu überzeugen. Da weder Papa noch Mama ein Wort Englisch sprechen, muss ich für Samu dolmetschen. Der sitzt übrigens unbehaglich mit einem aufgesetzten Betonlächeln auf unserer braunen Couch und sieht abwechselnd zu meiner Mutter, meinem Vater, Konrad, dem Hund, und hilfesuchend zu mir. Ich kann es ihm nicht verdenken. Wir haben einen ziemlich... energischen Ton zu Hause, aber im Grunde meinen wir es nur gut. Meistens. Für "Fremde", die noch nicht einmal unsere Sprache sprechen (jedenfalls nicht perfekt) muss es sich anhören, als seien sie bei der Mafia gelandet.
Ich habe versucht, ihn zu überreden, nicht mitzukommen, weil meine Familie eben sehr speziell ist, aber er wollte ja nicht hören. Tja, Jüngelchen, das hast du jetzt davon. Mir ist natürlich klar, dass keine Eltern der Welt erfreut über die Pläne ihrer Tochter wären, nach Finnland zu ziehen, besonders nach einem Vorfall mit dem Mörder ihres Bruder. Aber ich lege ihnen jetzt schon seit ungefähr fünf Stunden die Situation aus jedem nur erdenklichen Blickwinkel dar, und so langsam könnten sie sich ja mal geschlagen geben. Außerdem... "Ich bin 26 und keine 14 mehr!", bringe ich noch einmal mein stärkstes Argument vor. Mein Vater fuchtelt mit seinen Händen in der Luft herum und beteuert: "Ja, ja, Kind, wissen wir doch!", während meine Mutter Samu in die Wange zwickt und energisch sagt: "Na gut, Bub, aber dass du mir auch ja hübsch auf mein Mädchen aufpasst!" Im Gesicht des Blonden steht pures Entsetzen geschrieben und ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. So, so, es braucht also nur eine Mutter, um den werten Herrn Finnen aus der Bahn zu werfen. Dann verdrehe ich die Augen und werfe theatralisch die Hände in Richtung Wohnzimmerdecke. "Jaaa-haaa, Mama, wird er. Und wenn du noch weitere zehn Mal fragst, laufe ich Amok. Haben wir's jetzt?"
Nein, natürlich nicht. Meine Eltern wollen unbedingt noch alles über unseren "Urlaub" im Schnee wissen und die Fotos sehen. Es ist ja nicht so, als hätten wir uns die letzten drei Stunden nur im Kreis gedreht und Zeit vertrödelt, die wir wunderbar dafür hätten nutzen können. Aber gut, ich will es mir ja nicht mit ihnen verscherzen. Also schließe ich brav mein Handy an den Fernseher an und lasse eine Diashow der Fotos durchlaufen, während ich fleißig kommentiere. Als Bilder von Alaska kommen, will meine Mutter wissen, ob das eine Hyäne sei und mein Vater blickt gar nichts. Jap, soviel dazu. Ich erzähle ihnen, das sei bloß eine Fotomontage, um die Urlaubsfotos spannender aussehen zu lassen. Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, wie sich ein verschlagenes Grinsen auf Samus Gesicht stiehlt. Sogar er hat verstanden, dass ich nicht unbedingt einer der ehrlichsten Menschen bin, jedenfalls wenn es um meine Eltern geht. Versteht mich nicht falsch; ich liebe meine Elter und sie mich auch, aber manchmal sind sie etwas... anstrengend.
Es ist schon Abend, als wir endlich durch sind. Meine Mutter hat darauf bestanden, auch noch Bilder aus meiner Kindheit anzuschauen. Geht es noch peinlicher? Samu jedenfalls hat ein absolut dämliches Grinsen im Gesicht und ich bin praktisch nur noch am Augenverdrehen, wenn mein Vater wieder eine seiner berühmt-berüchtigten Geschichten über meine Wenigkeit zum besten gibt. Als ich denke, wir können endlich gehen, bestehen meine Eltern noch darauf, mir eine Kiste mit "persönlichen Dingen" zu packen. Flink wie Wetterfrösche im April hüpfen sie im Haus herum und drücken Samu und mir alles mögliche in die Arme. Als letztes ein Buch, das ich noch aus Kindertagen kenne. Es ist ein Buch über griechische Mythologie. "Weißt du noch, ich musste dir immer wieder die Stelle über den Orcus und den Tartarus vorlesen!", verkündet meine Mutter stolz und zieht mich ungestüm an ihre Brust, wo ich widerwillig einen Augenblick lang verharre. Dann löse ich mich wieder und betrachte das Buch lächelnd. Eine Menge glücklicher Kindheitserinnerungen hängen daran.
"Ja, weiß ich noch...", murmle ich. Samu sieht mich fragend an. "Orcus? Tartarus? Ist das ein Kochbuch?" Ich grinse und streiche über den Einband. "Ne, der Orcus ist die Unterwelt in der griechischen Mythologie und der Tartarus ist... hm, noch tiefer als die Unterwelt, wenn ich mich recht erinnere. Quasi die Unterwäsche der Unterwelt."
Samu zieht spöttisch eine Augenbraue hoch. "Unterwäsche der Unterwelt?" Ich stupse ihn in die Seite. "Tja, irgendwie musste ich es ja für dich minder Bemittelten veranschaulichen!" Er lacht und kurz denke ich, er küsst mich, aber unter dem strengen Blick meiner Eltern nimmt er bloß meine Hand. Meine Güte, anscheinend haben meine Eltern einen bleibenden Eindruck auf ihn hinterlassen. Meine Mutter beäugt uns unterdessen kritisch. "Was arbeitet dein Angebeteter denn?", fragt sie misstrauisch und schiebt sich ihre riesige, runde Brille zurück auf die Nase. Ich erzähle ihr, Samu wäre Zahnarzt, was sie umgehend beruhigt. Als mein Vater uns dann zum Essen einlädt, renne ich panisch zur Haustür und rufe etwas von "Keine Zeit" und "Heute Abend mit Freunden treffen". Dann verlasse ich, Samu im Schlepptau, fluchtartig das Gebäude. Der ist etwas überrumpelt, grinst aber, als wir schließlich gemeinsam im Auto sitzen.
"Ok, vergiss den Tartarus", stöhne ich, "das war die eigentliche Unterwäsche der Unterwelt!" Samu lacht und meint: "Ich mag deine Eltern!" Mir fallen fast die Augen aus dem Kopf. "Echt jetzt?" Lächelnd zuckt er die Schultern. "Ja doch. Ich hab zwar nichts verstanden, aber ich mag direkte Leute. Außerdem haben sie dich in die Welt gesetzt, was ja schon mal ein Grund ist, sie zu mögen." Wider Willen muss ich grinsen. "Du bist ab heute übrigens Zahnarzt", verkünde ich ihm und er lacht. "Aha. Muss man als Zahnarzt auch Leute wiederbeleben?" Ich lege die Stirn in Falten. "Nö, es sei denn, du führst eine Wurzelbehandlung ohne Schmerzmittel durch. Wieso?" Gespielt unschuldig zuckt er die Schultern. "Naja, wäre doch ganz lustig, so Leute mit Herzdruckmassage wiederzubeleben..." Er rückt ein Stück näher an mich heran, "... oder mit Mund-zu-Mund-Beatmung." Ich schiebe ihn mit dem Ellbogen ein Stück weg von mir und sage todernst: "Wenn du so weiter machst, brauchen wir wirklich bald einen Notarzt, weil ich das Auto dann nämlich in den nächsten Baum setze." Einen Moment Schweigen, dann sehen wir uns im Rückspiegel an und prusten los.
So, hier ist das nächste Kapitel. Ich hoffe, es gefällt euch^^ Falls nicht alles stimmt, von wegen griechische Mythologie und so, dann tut's mir ehrlich leid. Ich hoffe, ihr nehmt es mir nicht übel. Aber eigentlich geht's ja auch nicht um die griechische Mythologie, gell?^^
LG, Apple
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Eiskalt wie Alaska (Samu Haber FF)
Fanfiction~ Some things are meant to be ~ Lynn wird von ihren Eltern zu den schlimmsten Semesterferien ihres Lebens irgendwo im verschneiten Niemandsland verdonnert. Sie hat schon von Anfang an schlechte Laune. Doch wen sie dann trifft, hätte sie sich im Tra...