Aufgeben

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Elijah hielt ihn fest in seinen Armen bis ein neuer Tag hereinbrach. Keiner von ihnen hatte geschlafen. Elijah weil er auf Tobias aufpassen wollte und der Omega, weil er bis zum Hereinbrechen der ersten Sonnenstrahlen immer noch geweint hatte. Nun waren die Tränen versiegt, nicht weil er nicht mehr in seiner Trauer gefangen war, sondern weil sein Körper ihm einen Riegel vorgeschoben hatte. Er besaß nicht mehr die Kraft zu weinen, seine Augen waren so trocken, dass sie ohnehin keine Flüssigkeit mehr verlieren konnten. Auch sein Zittern war verschwunden, weil alle Energie verbraucht war und er befand sich in einem komischen Zustand zwischen Realität und Traum. Die Taubheit hingegen war noch da, ließ ihn sich fühlen, als wäre er ein Fremder in seinem eigenen Körper.

Schlaff, beinahe leblos wirkend, hing er stumm in Elijahs Griff, nicht bemerkend, wie Cassandra den Raum erneut betrat und sich zu ihnen kniete.

"Haben die Kräuter geholfen?", fragte sie leise, ihr Blick besorgt über Tobias gleitend.

"Nein, er ist heute Nacht nicht für einen Moment zur Ruhe gekommen, er war die ganze Zeit aufgewühlt und ich habe das Gefühl, dass er es noch wäre, würde die Aufregung nicht ihren Tribut fordern", antwortete Elijah und seine sonst so entschlossene Stimme wies ein seltsames Zittern, welches Tobias jedoch entging.

"Ich denke, es würde ihm gut tun, wenn er etwas frische Luft bekommt. Führ ihn etwas herum, ein kleiner Spaziergang, vielleicht kann er danach endlich etwas schlafen. Er braucht die Ruhe, die er sich gerade selbst verweigert."

"In Ordnung", stimmte Elijah ihr zu, bevor er sich vorsichtig mit Tobias erhob und versuchte den Omega behutsam auf seine Beine zu stellen, "Lass uns etwas die Gegend erkunden, ja? Ein paar andere Gedanken können dir nicht schaden, Tobias."

Der Omega reagierte nicht. Zwar stand er wackelig auf seinen Beinen, aber seine Augen waren fest auf den Boden gerichtet und auch sonst machte er nicht den Anschein, als hätte er Elijah gehört. Erst als der Alpha leise seufzte, einen Arm um die Hüfte des Kleineren schlang und ihn mit etwas Druck mit sich zog, setzte sich Tobias zögerlich in Bewegung.

Das Hauptquartier war von außen ebenso wie das Büro im Holzstil geraten und lag auf einem kleinen Hügel. Hinter dem Haus hatte jemand einen Garten angelegt und schien ihn mit voller Hingabe zu pflegen, denn verschiedenen Blumen strahlten in ihrer ganzen Pracht, als wollten sie einander übertrumphen. Große Obstbäume spendeten dem Garten hier und da ein wenig Schatten. Ihre Äste bogen sich sanft im Wind. Tobias hatte in seinem Leben keinen friedlicheren Ort gesehen, der einem sofort das Gefühl gab zuhause zu sein. Aber im Augenblick war er blind für diese Schönheit. Sie erreichte ihn nicht, sondern prallten an seiner kalten Hülle ab, unfähig sein Herz zu wärmen. Ein kleiner gepflasterter Weg führte durch den Garten, bis sie ein schmiedeeisernes Tor erreichten, das den Garten von einem größeren Trampelpfad abtrennte, der sie nach einigen Gehminuten zu einem Dorf führte. Obwohl der Weg denkbar kurz war, brauchten sie eine halbe Ewigkeit, weil Tobias nur über den Boden schlich und Elijah sich alle Mühe geben musste, um ihn überhaupt vorwärts zu bekommen.

"Das hier ist meine Heimat", murmelte Elijah und lächelte unwillkürlich bei dem Anblick des Dorfes.

Für einen Wimpernschlag sah Tobias auf und erblickte ein Dorf voller Leben. Die Straßen waren voll, Elijah hatte ihn anscheinend direkt zum Herzstück des Dorfes geführt, ein Markplatz, auf dem sich unzählige um die einzelnen Stände drängten. Einige geschäftig, andere entspannend schlendernd, in der Nähe konnte er Kinder lachen hören, die unbeschwert einem Ball hinterher jagten. Doch es war nicht die Lebensfreude, die für ihn so ungewohnt war, die ihn ungläubig zurück ließ, sondern die Tatsache, dass sich auf dem Marktplatz Menschen wie Werwölfe tummelten, als wäre es selbstverständlich Hand in Hand nebeneinander zu leben. Sie schienen ein Leben zu führen, wie er es sich für Sam und sich immer erträumt hatte. Glücklich. Zufrieden. Friedlich. Da setzte das Reißen wieder ein und er stolperte nach vorn. Er musste weg von dem glücklichen Lachen und den vielen Menschen. Getrieben von einem plötzlichen Fluchtinstinkt, riss er sich von Elijah los, lief Hals über Kopf durch die Menschenmenge auf der Suche nach einem Ausweg.

Elijah war zu überrascht gewesen, um rechtzeitig zu reagieren. Tobias konnte hören, wie der Alpha verzweifelt nach ihm rief, aber die Rufe wurden schon bald von der Menge verschluckt. Er rannte mittlerweile, auch wenn er immer wieder stolperte, weil ihn das Rennen eigentlich zu sehr anstrengte. Doch er wollte nicht anhalten und sehen, welche Zukunft für Sam und ihn möglich gewesen wäre, wollte kein zusätzliches Salz in seinen Wunden, die ohnehin schon brannten.

Irgendwann hatte er das Ende des Dorfes erriecht, an welchem sich ein kleiner See erstreckte. Das Wasser war an diesem Tag ruhig, die Oberfläche völlig glatt und glänzend in der Sonne. Tobias war gedankenverloren auf den kleinen Steg gelaufen. Er stellte sich vor, wie Sam hier sitzen und auf ihn warten würde. Grinsend. Ihm seinen Fang des Tages präsentierend. Wie sie einander umarmen und dann nach hause gehen würden, um den Fisch zu zubereiten. Es war eine schöne Vorstellung. Die niemals Realität werden würde.

Der Omega hatte sich inzwischen niedergelassen und saß nun am Ende des Stegs. Hier am See, wo nur das leise Rauschen des Windes zu hören war, der durch das Schilff strich, war der Lärm und die Aufruhr in seinem Inneren umso tosender. Immer und immer wieder spielten sich Sams Worte in seinen Gedanken ab, sie waren nicht zu stoppen und der Hass in ihnen wurde mit jedem Mal stärker. Was er bisher versucht hatte zu verdrängen, brach jetzt über ihn herein. Er war allein. Ohne Sam. Gebrochen. Er war sich seiner Fehler gerade so bewusst wie nie. Die Worte, die er nie ausgesprochen hatte, lagen tonnenschwer auf seinen Schultern. Von Anfang an hätte er Sam die Wahrheit sagen müssen, er hätte niemals über die Taten von James schweigen dürfen. Er selbst hatte dem Alpha den Weg frei gemacht, Sam zu manipulieren. Und jetzt gab es kein zurück. James würde Sam töten, wenn sein Fell nicht weiß sein würde und anschließend würde er Tobias jagen, bis auch sein Leben ein Ende fand oder der Krieg. Sam erschien jetzt unerreichbar. James würde ihn niemals frei lassen und Tobias war nicht in der Lage, James zu besiegen. Die Entfernung zu seinem Bruder war größer denn je. Die Angst, dass sie niemals wieder zueinander finden würde, breitete sich rasend schnell aus. Es machte ihn wahnsinnig keine Lösung zu finden. Keinen Ausweg. Es erschien alles hoffnungslos. Und er war es leid zu kämpfen. All die Jahre hatte er nichts anderes getan und was hatte es ihm gebracht?

Vielleicht war es manchmal besser aufzugeben. Vielleicht musste er erkennen, dass er geschlagen war. Die Aussicht nie wieder kämpfen zu müssen war verlockend. Leicht. Jetzt, wo Sam ihn nicht mehr in seiner Nähe wollte, wo ihn eigentlich nichts mehr auf dieser Welt hielt. Es gab keinen Grund weiter zu machen. Er konnte nicht mehr ertragen. Die Grenze war erreicht. Endgültig.

Da traf er eine Entscheidung. Nur für sich in einem stillen Moment. Eine Entscheidung, dass es jetzt genug war, dass er genug ausgehalten und genug gekämpft hatte. Der Schmerz sollte ein Ende haben und es schien der richtige Zeitpunkt zu sein. Er ließ sich in das kühle Nass des Sees gleiten. Dann tauchte er unter. Schloss die Augen. Lauschte dem Rauschen des Wassers und wartete. Bis die Luft seine Lungen verließ. Bis sein Bewusstsein schwand.

In der tiefen, schwarzen Dunkelheit war es nicht ruhig. Nicht friedlich. Nicht angenehm. All das wäre Etwas gewesen, doch in der Dunkelheit gab es nichts. Nicht einmal Leere.

Er hieß die Dunkelheit willkommen, als sie Stück für Stück von ihm Besitz ergriff. Nur bevor sie sich ihn ganz zu eigen gemacht hatte, verschwand sie plötzlich. Seine Hände waren nicht fähig sie festzuhalten. Dabei wollte er sie unbedingt zurück. Vergebens. Sie rückte in weite Ferne und gab ihm das Sehen zurück. Das Erste, was er wieder sah, war Elijah. Der Alpha beugte sich über ihn und hielt Tobias Gesicht in seinen Händen, als wäre es unendlich kostbare, während Tobias Wangen erneut von Tränen gezeichnet wurden. Dieses Mal waren es nicht seine eigenen, es waren die von Elijah.

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#69 in Werwolf ♥♥♥ Völlig sprachlos...


GefangenWhere stories live. Discover now