Vermissung

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Unruhig wälzte ich mich von einer Seite zur anderen. Ich versuchte schon seit Stunden einzuschlafen, vergebens. Sobald ich meine Augen schloss, spürte ich wieder, wie sein Arm sich langsam um mich schlang und er liebevoll meinen Nacken küsste. Auf diese Art war ich schon so viele Male eingeschlafen und mit ihm an meiner Seite unzählige Morgende aufgewacht. Doch jetzt nicht mehr. Ich spürte immer noch seinen Atem in meinem Nacken, seine Berührungen meines Körpers, seine Küsse auf meiner Haut, aber er war nicht mehr da. Es war nun schon ein halbes Jahr vergangen. Ein halbes Jahr, das mir zeigte, wie der Rest meines Lebens aussehen würde. Ein halbes Jahr, und trotzdem weinte ich mich noch jede Nacht in den Schlaf, brach auf offener Straße zusammen und konnte mich mit keiner Beschäftigung ablenken.

„Das ist doch hoffnungslos.", murmelte ich und erhob mich aus dem Bett. Ich nahm eine Jacke aus meinem Schrank und ging an die frische Luft. Es war nun Dezember, eiskalt und dunkel auf den Straßen. Es waren Minusgrade und ich trug nur eine dünne Jacke über meinem Nachthemd, doch von Innen war ich so taub, dass ich die Kälte gar nicht spürte.

Ohne groß zu überlegen liefen meine Beine schon los. Ich musste zu ihm. Den Weg kannte ich Inn und Auswendig, war ich ihn doch schon so viele Male in den letzten Monaten gelaufen. Es war ein knapper Kilometer zu ihm, und auf halbem Weg fing ich an, die Kälte doch zu spüren. Aber meine Trauer führte mich weiter und die Tränen auf meinen Wangen wärmten mein kaltes Gesicht, sodass ich kurze Zeit später vor einem großen Eisentor stand, das den Weg zum Friedhof versperrte. Ich wusste, dass dieser Eingang verschlossen war, doch wenn ich um den gesamten Friedhof herum gehen würde, auf die andere Seite, gäbe es dort eine kleines, offenes Tor, das mir Zutritt verschaffen würde.

Die einst farbenfrohen Blumen an seinem Grab fingen an zu verwelken und wirkten ganz trist und grau in dem dimmen Licht der Friedhofsleuchten. Ich wollte seinen Namen schreien und in meinen Tränen ertrinken, doch durch die Kälte war ich wie erstarrt. Ich sank auf meine Knie und spürte, wie sich die spitzen Steine auf dem Boden in meine Haut bohrten. Ich wollte so gerne bei ihm sein und ihn wieder in den Arm nehmen können, mit ihm reden und ihn spüren können, doch, obwohl ich nun bei seinem Grab war, wirkte er ferner von mir, als jemals zuvor.

Ich wollte bei ihm sein. Das war mein einziger Wunsch. Also legte ich mich neben sein Grab und atmete tief ein. Die eisige Luft drang in meine Lungen ein, sodass die Kälte meinen gesamten Körper von Innen zerstach. Meine Augenlider wurden schwerer und schwerer, und ich merkte, dass ich bald einschlafen konnte. Ich hatte seit Wochen nicht mehr geschlafen. Bald würde ich bei ihm sein, dies war mein einziger Gedanke. Eine letzte Träne lief mir über die Wange, bevor sich die Trauer der letzten Monate endlich von mir löste und ich erleichtert einschlief.

Auf einmal erhob ich mich vom Boden und erblickte ihn nur ein paar Meter vor mir stehend. „Emma, was machst du hier? Du sollst gar nicht hier sein!", rief er mir zu.

„Das ist mir egal, ich bin endlich wieder bei dir."

„Nein, nein, nein! Wach auf, hörst du mich? Du musst aufwachen!", entgegnete er mir.

„Aber jetzt können wir wieder zusammen sein, nur du und ich. Für immer."

„Emma, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr du mir fehlst. Aber du bist noch nicht so weit. Es wird lange dauern, aber du wirst ein neues Leben anfangen können. Ohne mich. Mit jemand anderem an deiner Seite. Du wirst wieder Glück verspüren und einen Sinn im Leben sehen. Bitte glaub mir, du musst aufwachen.", flehte er mich an. Wie konnte er so etwas sagen? Wieder bei ihm zu sein war mein einziger Wunsch, und nun stand er direkt vor mir. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also schloss ich ihn in meine Arme und sog seinen Duft tief in mich hinein.

„Bitte Emma, wach auf. So schwer es dir nun auch scheint, du musst aufwachen, hörst du? Wach auf!" Plötzlich wurde wieder alles schwarz und ich hörte nur noch seine Stimme. „Wach auf Emma, bitte, wach auf!" Die Stimmfarbe veränderte sich etwas, bat mich aber weiterhin, aufzuwachen. Dann öffneten sich meine Augen und ich sah den Mann, dessen Stimme zu mir gerufen hatte, vor mir kniend. 

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⏰ Last updated: Mar 10, 2018 ⏰

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