Kapitel 22

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„Warum habt ihr mir nichts von ihm erzählt?", schrie ich am Freitagmittag meine Eltern an, nachdem ich sie den restlichen Donnerstag gemieden und mich bis zum späten Vormittag im Bett verkrochen hatte. Ich kannte die Antwort auf meine Frage, auch ohne ihre Worte. Sie hatten mich nur beschützen wollen, weil sie genau wussten, dass ich unter jeglichen Informationen litt und mein Körper Faxen machte. Zu oft war ich im Krankenhaus zusammen gebrochen, weil man versucht hatte mir Dinge aus der Vergangenheit verschonend beizubringen, dass ich eineinhalb Jahre im Koma gelegen hatte.

„Wir haben es nur gut gemeint", versuchte es mein Vater ruhig.

„Gut gemeint?", wiederholte ich fassungslos. „Er war so ein guter Freund von mir! Elias hätte mich im Krankenhaus besuchen können! Vielleicht hätte mir das geholfen! Aber jetzt... Scheiße, er hat gestern alles versucht und es passiert nichts! Ich bekomme meine Erinnerungen nicht mehr zurück! Sie sind weg, verloren! Meine Schulzeit... Meine Freunde..." Tränen bildeten Sturzbäche auf meinen Wangen, brannten sich ein weiteres Mal in meine Haut. Ich schluchzte laut, hielt mich in meiner Verzweiflung nicht zurück, die meine Eltern nur zu gut kannten.

„Carolin, wir wollten dich beschützen. Dir ging es im Krankenhaus so schlecht und...", setzte meine Mutter vorsichtig an, doch sie brach ab, denn auch sie wusste, dass ihre Worte keinen Zweck hatten. Ich hatte mich in meiner Hoffnungslosigkeit verloren, hatte den Kampf aufgegeben.

„Elias hat mir Bilder gezeigt", weinte ich. „Ich sah so glücklich aus. Die Zeit muss wirklich schön gewesen sein. Ich will mich erinnern." Mir entfleuchte ein weiterer Schluchzer. „Ich will meine Erinnerungen zurück!", brach es lautstark aus mir heraus, als es an der Tür klingelte. Das nahm ich gar nicht wahr, fiel heulend auf die Knie und vergrub mein Gesicht unter meinen Händen, während meine Mutter in ihrem Rollstuhl an die Tür fuhr und sie öffnete.

Mein Vater kniete sich zu mir, um seine Tochter in die Arme zu schließen. Ich hörte sein Herz in seiner Brust hämmern und seinen Atem, der ihn stoßweise verließ. Er zitterte etwas. Das einzige Kind derart kaputt zu sehen, machte auch die Eltern kaputt.

„Warum? Ich will doch nur meine Erinnerungen zurück!", schrie ich weinend an der Brust meines Vaters und klammerte mich an ihn, wie man es bei einem Rettungsring machte. All der Schmerz in mir, kam nun zum Vorschein. Es brach einfach aus mir heraus, wie es bei einem Damm war, der Risse bekommen hatte und das Wasser nicht mehr zurück halten konnte. So erging es auch mir. Ich konnte meinen Kummer nicht zurück halten, konnte ihn nicht verstecken.

Elias, der mich an der Wohnungstür hören konnte, wurde von meiner Mutter entschuldigend weggeschickt. Dass er überhaupt da war, erzählte sie mir erst beim Abendessen.

Verlust #catalyst500Where stories live. Discover now