Kapitel 1

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„Das könnt ihr doch nicht machen!", schrie ich aufgebracht, die Treppe nach oben zu meinem Zimmer hoch hechtend.
„Roxana, bitte warte doch!", wurde mir noch hinterher gerufen, doch ich hatte schlichtweg weder Lust, meinen Erzeugern dabei zuzugucken, wie sie vergeblich versuchten, irgendetwas an der Tatsache zu verbessern, noch die Nerven dazu, mich ausgerechnet jetzt groß aufregen zu müssen.
Mit einem lauten Knall flog meine Zimmertür zu.

Meine Eltern hatten mir gerade eröffnet, dass sie nach den Sommerferien auf Weltreise gehen wollten. Ohne mich. Und anscheinend sicherlich nicht in achtzig Tagen. Dass mir auch noch die tollsten Pläne präsentiert worden waren, wo die Herrschaften denn vorhatten, wie lange zu bleiben und wie man die Zeit am effektivsten nutzen konnte, brachte mich leider auch nicht sonderlich viel weiter - da konnte meine Mutter meinen Vater noch so verliebt angucken.
Verärgert, nein, wütend ließ ich mich auf mein Bett fallen. Wie kamen sie auf solche Ideen?! Warum mussten sie denn ausgerechnet eine Weltreise machen, während ich noch bei ihnen wohnte? Sie hätten keine drei Jahre mehr warten müssen, dann wäre ich vermutlich sowieso aus dem Haus gewesen. Aber nein. Jetzt wollten sie mich abschieben. Einfach so, als wäre ich ihnen gar nichts mehr wert. Und anstatt das ganze Geld in eine Weltreise und ein teures, privates Internat zu stecken, hätten sie es sicherlich auch irgendwie besser anlegen können. Aktien zum Beispiel schienen doch eine sehr sichere Angelegenheit zu sein. Ich hätte gerade vermutlich mit einer Handbewegung die gesamte Ausstattung meines Zimmers zerstören können, zur Wahrung des allgemeinen Wohls sollte ich dies aber vermutlich besser lassen.
Ein Blick auf die Uhr ließ mich wissen, dass ich eigentlich schon vor zehn Minuten hätte fertig sein müssen. Dies war ich jetzt natürlich nicht - und Bea würde mir mit ziemlicher Sicherheit den Kopf abreißen. Zu allem Übel hatte ich ihr nämlich versprochen, dass ich ihr mit den Vorbereitungen für ihre Geburtstagsparty helfen würde. Vor fünf Minuten. Ich hatte praktisch im Gefühl, dass ich gleich einen ungeduldigen Anruf meiner besten Freundin erhalten würde.
Eilig warf ich mich in die Klamotten, die ich glücklicherweise schon vorher herausgesucht hatte und zupfte meine noch feuchten Haare zurecht. Wie immer lief dies natürlich nicht so, wie ich es gewollt hätte und ich sah aus wie Struwwelpeter höchst persönlich.
Ich schnappte mir meine Tasche, stopfte mein Handy, die Wimperntusche - weder Zeit, noch Lust zum Schminken! - und das Portemonnaie hinein und fand mich keine Minute später fertig - physisch und psychisch - auf dem Weg zu meiner Freundin wieder. Meine Eltern würdigte ich keines Blickes, als ich die Treppe nach unten hinunterging, aber die hatten sich vermutlich sowieso wieder in den Garten begeben, um dort dem Gras beim Wachsen zuzusehen.
Noch auf dem Weg klingelte schließlich mein Telefon. Ich aber hatte besonders gerade keinen Bedarf, mich für das alles zu rechtfertigen, da ich in zwei Minuten sowieso angekommen sein würde. Stattdessen sang ich lieber lauthals den Songtext des Liedes mit, das ich extra für Bea eingestellt hatte.
„I'm breaking up, I feel it in my bones - enough to make my systems blow", einer der Nachbarn sah mich an, als wäre ich total verrückt geworden. War ich vermutlich auch, denn nicht alle Jugendlichen sangen inbrünstig ein Jahre altes Lied, das kaum noch im Radio lief - und das am helllichten Tage bei wohlig warmen siebenundzwanzig Grad Celsius. „Welcome to the new age, to the new age, welcome to the new age, to the new age...", ich war wenige Schritte später angekommen und klingelte Sturm. Dies war vermutlich eine der Angewohnheiten, die ich nie loswerden würde; nicht in zwanzig Jahren. Immerhin wusste im Hause Müllers immer jeder, wer vor der Haustür stand, wenn mal wieder eine solche Wohltat der Klangwelten fabriziert wurde. Ich wartete ungeduldig bis die Tür auf flog und ein aufgebrachtes, blondes Mädchen mir wie ein Schießhund entgegen sprang.
„Na endlich! Was hat denn so lange gedauert?!", fragte sie und durchbohrte mich beinahe mit ihren funkelnden Augen.
„Wenn du wüsstest...", murmelte ich nur und trat, statt eine anständige Auskunft zu geben, einfach ein. „Wenn du einverstanden bist, erkläre ich dir das einfach später..."
„Na, wenn du meinst. Komm jetzt, hilf mir mal, Knabbersachen zu verteilen!"
Damit schien dann auch die Verspätung wieder vergessen zu sein. Ausdruckslos verteilte ich Becher um Becher, gefüllt mit allerlei Süßigkeiten, auf Stehtischen, die wir natürlich auch noch an ihre richtigen Orte stellen mussten, und in allen möglichen Ecken. Bemitleidenswert, diese Becher. Im Grunde genommen wollte sie nämlich keiner haben. Ich meine: Wer will denn freiwillig einen Becher Salzstangen essen, wenn man anstattdessen auch allerhand andere Sachen haben kann? Niemand. Aber wenn man keine andere Wahl hat, sind sie trotzdem noch gut genug für jeden.
Seufzend fuhr ich einfach fort und verteilte anschließend noch die Getränke auf den Tischen. Nach einigen Malen bemerkte ich, dass unter den Flaschen und Getränkekästen auch mehrere Bierkästen waren.
„Ist das dein Ernst? Alkohol?", meine Gesichtszüge waren mir entgleist. „Willst du dich ernsthaft abschießen?"
„Jetzt entspann dich doch mal", lachte Bea und zuckte nur verständnislos mit den Schultern. „Was ist denn eine vernünftige Party ohne Alkohol? Ich hab den Kasten vorhin im Keller gefunden - das fällt schon nicht auf. Und meine Eltern sind doch sowieso zu meiner Tante gefahren. Bis die was merken, bin ich wieder drei mal nüchtern."
„Wenn du meinst", entgegnete ich gleichgültig.
Es musste ja jeder selbst wissen. Ich selbst wäre auch nie auf die Idee gekommen, meinen Geburtstag mit der gesamten Klassenstufe zu feiern.

Einige Zeit später trafen bereits die ersten Gäste ein. Nach und nach füllte sich das Haus meiner besten Freundin und schon bald wurde es mir zu viel hier. Der Lärmpegel lag weit über dem Grenzwert, alles wuselte wild durcheinander. Im Betrunkensein tanzten die verschiedensten Leute miteinander, die sich in der Regel nicht ausstehen würden. Die unsägliche Hitze machte mich krank. Unbemerkt schlich ich mich in die große Küche, wo ich tatsächlich unsere Clique vorfand. Sie saßen neben der geöffneten Gartentür am Küchentisch und ließen mehr oder weniger die Köpfe hängen. Von der lauten, dröhnenden Musik, die aus den Lautsprechern strömte, taten wohl nicht nur mir die Ohren weh. Ich schloss die Tür und setzte mich auf die Arbeitsplatte.
„Na, weswegen seid ihr geflohen?", fragte ich in die Runde.
„Da fragst du noch?", murrte Malis und sah mich durchdringend an. Sie war meine zweite beste Freundin. Auch Melissa, Ole und Jessica schienen nicht allzu begeistert zu sein vom Ablauf dieser Feier. „Also, ich muss mir das nicht geben. Die drehen völlig am Rad, da draußen. Bier, Musik und was weiß ich, was da noch passiert. Wenn meine Eltern das rauskriegen, darf ich nie wieder auf eine ‚Party' gehen..."
In der Küche unterhielten wir uns noch ein wenig und um kurz nach halb zehn wurde schließlich entschieden, nach Hause zu gehen. Bea fanden wir im Gedränge nicht mehr und vielleicht war das auch besser für alle Beteiligten. Als wir gerade die Seitenstraße verlassen hatten, kam uns eine Horde Jugendlicher entgegen, die definitiv alles waren, aber nicht nüchtern. Sie waren sicherlich ein paar Jahre älter als wir und schienen tatsächlich zu Bea zu wollen. Vielleicht war es sogar sehr gut gewesen, dass wir uns von der Feier verabschiedet hatten... Auf dem Weg lauschte ich den Gesprächen meiner Freunde nur halbherzig. In meinen Gedanken war ich schon wieder Zuhause. Und bei meinem großartigen Internat. Was dachten die sich dabei? Was?

Mein Haus war wie immer das Erste, an dem wir auf unserer Route vorbei kamen.
Wir umarmten uns alle nacheinander zum Abschied, dann gingen die anderen weiter.
Ich wollte nicht rein gehen. Ich hatte nämlich nach der Aktion von vorhin definitiv keine Lust auf meine Eltern, die nur versuchen würden, mich so zu bearbeiten, dass ich letztlich dann doch eine riesige Freude verspüren würde, mich auf ein verdammtes Internat zu begeben. Aber dieser Fall würde vermutlich nie eintreten.
Ich zückte meinen Schlüssel, öffnete die Tür und versuchte, mich möglichst unbemerkt nach drinnen zu begeben. Das wäre vermutlich nicht nötig gewesen. Die Lichter hier unten waren allesamt aus, lediglich oben nahm ich eine dezente Lichtquelle wahr.
Als ich kurze Zeit später schließlich oben war, bewegte ich mich keinen Zentimeter aus meinem Zimmer heraus, ich wollte bloß keine Konfrontation riskieren. Ich schälte mich aus meinen Klamotten hinein in meinen Pyjama.
Auf meinem Schreibtisch bemerkte ich einen Zettel.

„Hallo, Schatz..."

Super! Jetzt verfolgten die mich bis in mein Zimmer!
Ich hörte auf, zu lesen, zerknüllte genervt das Papier und ließ es mit einem gezielten Wurf im Mülleimer verschwinden.
Was auch immer die vorhatten: Ich würde mit Sicherheit nicht mitspielen.

Reitinternat Schloss Wickrath (- Neu!)Where stories live. Discover now