Bahnhofdate

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Ein ganz normaler Uni-Tag. Ich hatte mir schnell auf dem Weg zum Bahnhof einen Kaffee geholt, obwohl ich schon viel zu spät war, wie jeden Tag. Mit meiner dicken Aktentasche unterm Arm rannte ich die Straße in Richtung Haltestelle hinab, wie jeden Tag. Dabei flogen meine braunen Haare im Wind und versperrten mir zeitweise die Sicht, so wie jeden Tag. Ich erreichte den Zug gerade noch rechtzeitig, eilte in das Abteil und suchte mir einen Platz, wie jeden Tag.

Sie waren schon alle da. Die blonde Frau mit den schulterlangen, gewellten Haaren, die sich immer an einer der Haltestangen festhielt und starr aus dem Fenster blickte. Der dickere Mann mit Dreitagebart, der nur wenige Sitze neben mir saß und grundsätzlich schlief, bis seine Station kam. Manchmal schnarchte er sogar. Das dünne, nur in schwarz gekleidete Mädchen mit den langen Haaren, das so laut Musik hörte, dass alle Personen mithören konnten und das während der Fahrt nicht einmal ihren Blick vom Smartphone abwandte. Dann war da noch die junge Mutter mit dem Kinderwagen, der die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben war, so tief waren ihre Augenringe. Sie schob den Kinderwagen immer wenige Zentimeter hin und her um ihr schreiendes Baby zu beruhigen. Und schließlich der streng gescheitelte Geschäftsmann, der immer Anzug trug und immer anscheinend wichtige Telefonate führte, denn er argumentierte lautstark. Ich verstand davon nicht viel, war ich doch nur eine einfache Psychologiestudentin, die nichts mehr herbei sehnte als das Bett. Da ich jeden Tag um die gleiche Uhrzeit mit der gleichen U-Bahn zur Uni fuhr, hatte ich schon nach kurzer Zeit bemerkt, dass immer die gleichen Menschen im Zug mitfuhren. Langweilig und eintönig. Immer das Selbe.

Doch an diesem Tag war es anders. Ich erkannte die Veränderung bereits in dem Moment, als ich mich setzte und auf dem Sitz mir schräg gegenüber einen Jungen bemerkte, den ich noch nie gesehen hatte. Verträumt sah er aus dem Fenster und beobachtete die aufgehende Sonne, den leichten Nebel und die vorbeiziehende Landschaft. Der Zug fuhr so schnell, dass von ihr nur noch verwischte Konturen übrig blieben. Er faszinierte mich mit seiner Art, obwohl er mir vollkommen fremd war. Er zog mich förmlich an, ohne ein Wort zu sagen, ja sogar ohne mich einmal anzusehen. Tausend Fragen schwirrten in meinem Kopf: Wie hieß er? Wie alt war er wohl? Wohin musste er? Hatte er wohl eine Freundin? Doch ich sagte nichts, sondern starrte den geheimnisvollen Fremden förmlich an. Meinen Blick konnte ich nicht von ihm wenden. Die großen hellblauen Augen, in denen sich die Umgebung widerspiegelte. So blau wie der Himmel und das Meer. Die kurzen braunen Haare, die ich zu gern gestreichelt hätte. Er hatte einen gepflegten gestutzten Bart und markante Gesichtszüge. Er trug einen schwarzen Kapuzenpullover, die Ärmel hochgekrempelt, eine dunkle Jeans und weiße Turnschuhe. Ich konnte sein Alter nicht wirklich schätzen, da er sein Gesicht nicht mir zugewandt hatte, aber oh Gott, er war so unfassbar schön. Er hatte mich vollkommen in seinen Bann gezogen, ohne dass ich ihn überhaupt kannte. Alles an ihm war attraktiv: Die Augen mit den leichten Lachfalten, die Haare, durch die er sich zeitweise fuhr, die Adern auf seinen Händen und Armen. Ich wollte ihn kennenlernen, ich musste. Wie könnten unsere Kinder aussehen? Oder hatte er vielleicht schon welche? Der Fremde ließ so viele Fragen offen, dass er immer geheimnisvoller wurde, je länger ich ihn ansah. Hatte er eigentlich gemerkt, dass ich mich hingesetzt hatte oder viel wichtiger, mochte ihm auffallen, dass er mir auffiel?

Der Zug war bereits an vielen Haltestellen vorbeigefahren, ohne dass der Junge (Vielleicht ja auch Student?) ausgestiegen war. Die Uni war die letzte Station, als würde ich auf jeden Fall sehen, wo er aussteigen würde. Vielleicht ja im Stadtzentrum, wo die meisten Unternehmer und Geschäftsleute arbeiteten. Oder vielleicht am Marktplatz, wo sich jeden Morgen unzählige Jugendliche versammelten. Ich wusste aber nicht, wieso. Mit meinen 23 Jahren war ich dafür wahrscheinlich schon zu alt.

Der Fremde hatte noch kein einziges Mal von der Fensterscheibe abgelassen. Sein Blick war völlig dem Geschehen außerhalb des Zuges zugewandt. Er trug keinen Ring, woraus ich schloß, dass er nicht verheiratet war. Er hatte auch kein Smartphone parat, von dessen Bildschirm, zumindest Hintergrundbild, sich Informationen hätten herausfinden lassen. So ließ er mich in völliger Ahnungslosigkeit über seine Identität. Er machte mich verrückt.

Plötzlich drehte er sein Gesicht mir zu und sah mir direkt in die Augen. Die hellen Augen, noch viel heller als ich zuerst gedacht hatte, trafen mich wie ein Schlag, so stechend blau waren sie. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Mein Herz hämmerte wie verrückt. Mein Gehirn schrie mir nur einen einzigen Gedanken zu: „Sprich ihn an!" Er schien bemerkt zu haben, wie angetan ich von ihm war und lächelte leicht, fast unmerklich. In diesem Moment war mir klar, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Hals über Kopf an einem ganz normalen Tag im Zug. Was würden wohl meine Kinder später dazu sagen... Der Zug hielt an. Er nahm seinen Rucksack und stand auf. Die Liebe meines Lebens war ausgestiegen, hinausgetreten auf den kalten Bahnsteig voller Frühnebel und ließ mich unwissend zurück. Die Türen schlossen sich wieder.

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⏰ Last updated: Aug 12, 2018 ⏰

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