Tag 135 ohne dich

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Es tut mir sehr leid, dass ich dich so lange warten lassen habe. Ich kann es noch immer nicht fassen, aber ich bin jetzt eine Mama. Ist das nicht unglaublich? Die Mama einer kleinen süßen Tochter! Sie hat vor einigen Tagen das Licht der Welt erblickt mit ihren 52 cm und 3260 Gramm. Ich bin so unendlich dankbar für dieses zarte Wesen. Ich könnte sie die ganze Zeit nur ansehen. Und ja, es ist unglaublich schwer für mich, dass wir diese Momente nicht teilen können. Es zerbricht mir regelrecht das Herz.

Du kommst niemals auf den Namen, Greta. Das wäre der allerletzte Name, auf den du tippen würdest. Ich habe mich immer gegen ihn gewehrt, ich konnte mich damit nicht arrangieren. Mit deinem Wunschnamen. Aber nun hast du deinen Willen doch durchgesetzt. Sie heißt Henriette. Mittlerweile klingt der Name auch in meinen Ohren wie Musik, aber ich habe es dir zu Liebe getan, weißt du?

Die Geburt war für mich so emotional, auch wenn am Ende alles gut verlief. Ich hätte dich gebraucht. Du hättest an meiner Seite sitzen, meine Hand halten und mich beruhigen sollen. Aber du warst einfach nicht da und als ich das realisiert habe, brach in diesem Moment eine Welt für mich zusammen. Aber ich hatte keine Zeit mehr, an dich zu denken und mir darüber Gedanken zu machen. Ich habe nur noch an das Baby gedacht.

Lina war die ganze Zeit an meiner Seite. Auch während der Geburt. Sie hat deinen Platz eingenommen und ich bin ihr dafür unglaublich dankbar. Sie liebt die Kleine abgöttisch, aber man merkt auch ihr an, dass es sie mitnimmt. Ich habe das Baby zur Welt gebracht, auf das wir beide uns gefreut haben. Du und ich. Und auch sie weiß, dass du an meiner Seite hättest sein müssen. Aber daran können wir nichts ändern und auch du nicht.

Nun sind wir die ersten Tage zu Hause und ich habe das alles noch gar nicht richtig realisiert. Es fühlt sich so unwirklich an. Henriette und ich sind schon jetzt ein gutes Team und Lina verbringt ihre freie Zeit bei uns, um mich zu unterstützen. Du müsstest sehen, wie liebevoll sie mit ihr umgeht, es ist wirklich herrlich. Ich verspreche dir, dass ich immer gut auf die Kleine aufpassen werde. Sie bedeutet mir alles. Und ich weiß auch, dass Lina immer an ihrer Seite sein wird.

Ich kann mich leider noch nicht so gut bewegen, aber es wird von Tag zu Tag besser und die Kleine hält mich gut auf Trab. Sie hat so viele braune Haare. So wie ich es als Baby auch hatte. 1:1 mein Ebenbild. Ich habe dir doch mal die Bilder aus meiner Kindheit gezeigt, kannst du dich erinnern? Du hast mir immer gesagt, dass du hoffst, dass das Baby meine Haare bekommt und so ist es nun anscheinend gekommen. Sie schläft sehr gut und hat auch viel Appetit. Hoffentlich bleibt es so, man kann das ja nie wissen.

Es ist alles so aufregend. Ich kann es gar nicht beschreiben, aber du kennst dieses Gefühl sicher von Lina. Ich werde von ihr angezogen. Sie ist mein Lebensmittelpunkt. Früher warst du das immer. Und du bedeutest mir noch immer die Welt, aber sie hält mich zusammen, verstehst du? Wenn ich sie ansehe, dann fühle ich mich besser. Sie gibt mir Kraft, sie macht mich stärker. Diese Art zu empfinden, ist ganz neu für mich. Sie wird mir helfen, über dich besser hinwegzukommen. Denke ich. Hoffe ich. Wir schaffen das, ich muss es schaffen.

Meine Eltern kommen morgen vorbei und bleiben einige Tage. Sie wollen ihre Enkeltochter endlich auch real kennenlernen. Sie sind jetzt schon so stolz und verliebt in die Kleine. Wir machen täglich einen Videoanruf und ich sehe meinen Eltern an, dass sie sich die Glückstränen verdrücken müssen. Ich freue mich, sie bald hier zu haben. Und ich weiß, dass Henriette auch die beiden verzaubern und in ihren Bann ziehen wird. Ich habe bereits mit dem Gedanken gespielt, wieder zurück in die Heimat zu ziehen. Aber das ist für mich eigentlich keine Option. Wir haben uns hier ein Leben aufgebaut. In diesem wunderschönen Haus. Auch wenn mich alles an dich erinnert, aber auch das ist ein Grund, zu bleiben. Und auch Lina ist hier, ich kann sie nicht alleine lassen. Sie verarbeitet deinen Verlust immer noch, wie wir alle es tun. Und es wird wohl noch eine ganze Weile dauern, aber seitdem Henriette da ist, geht es ihr besser.

Jetzt sitze ich hier am Tisch und weine. Die Tränen laufen über die Buchstaben und verschmieren alles, aber ich kann sie nicht zurückhalten. Ich weine vor Glück, weil ich Mama bin. Mama einer wundervollen Tochter. Und ich weine vor Traurigkeit, weil du deine Tochter nie kennenlernen durftest. Warum muss nur alles so unfair sein?

Oh, sie macht sich gerade bemerkbar. Sie hat wohl Hunger. Ich werde nach ihr sehen. Wir lesen uns ganz bestimmt bald wieder, davon bin ich überzeugt. Ich gebe ihr einen Kuss von dir, ja? Ich weiß, dass du sie die ganze Zeit küssen würdest, wärst du jetzt bei uns. Wir würden uns beide tief in die Augen sehen, uns zunicken und Henriette liebevoll anschauen. Mit dem Wissen, dass alles perfekt ist. Aber es sind nur Träumereien, die ich habe. Ich weiß aber, dass es ganz genau so gekommen wäre und der Gedanke erfüllt mich mit Liebe. So, jetzt muss ich aber wirklich. Sie macht Alarm.

In Liebe,
Amelie

In Liebe, Amelie || gxgWhere stories live. Discover now