Kapitel 1

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- auf einem kleinen Bauernhof in Milltown, Irland - 06.10.2018 - 

"Möchtest du noch ein Stück Kuchen, Liebes?"

Ich warf der schiefenTorte einen skeptischen Blick zu. Mir war nach einem Stück schon schlecht und ich wusste auch nicht, was überhaupt die Inhaltsstoffe dieser Torte waren. Mal abgesehen von mintgrüner Lebensmittelfarbe und kitschigen Marzipan-Rosen. "Nein, danke", erwiderte ich mit dem schönsten Lächeln, das ich mir aufzwingen konnte.

"Gut, dann bleibt eben mehr für mich übrig." Tante Agatha schaufelte sich ein weiteres Stückchen Torte auf ihren Teller, und biss so herzhaft hinein, dasssich mein Magen unverzüglich wieder zusammenkrampfte. "Das Geheimnis ist, dass man frische Minze nimmt. Ich zum Beispiel baue meine Minze immer zu Hause an."

Ich wollte gar nicht wissen, was sie denn sonst noch so zu Hause anbaute, und lächelte nur versöhnlich.

"Victoria müsste jetzt mittlerweile schon einundzwanzig sein, nicht wahr?", fragte Agatha zwischen zwei Bissen von der Torte.

Ich sog scharf die Luft ein, und sah gespannt herüber zu meiner Mutter, welche allerdings mit aller Ruhe ihrer Stimme noch eine Tasse Kaffee einschenkte. "Ja, sie ist vor einem Monat einundzwanzig geworden", antwortete sie ohne ein hörbares Zittern in der Stimme.

Ihr Satz klang so, als wäre sie sich sicher, dass meine ältere Schwester noch am Leben war. Dabei war es nun bereits fünf Jahre her, dass sie spurlos verschwunden war, und sie nie wieder jemand gesehen hatte. Der Polizei zufolge war sie wahrscheinlich verschleppt und getötet worden, aber meine Mutter schien die Hoffnung nicht verlieren zu wollen. Ich wusste nicht, ob es bewundernswert, oder naiv war, und entschied mich dazu, diese Frage zunächst offen zu lassen.

Bevor Agatha anfangen konnte, womöglich auch noch über meinen verstorbenen Vater zu reden und meine Mutter in die nächste Depression zu stürzen, führte ich wahrscheinlich erstmals das Tischgespräch voran: "Wirst du uns nun öfter besuchen kommen, Agatha?"

Sie schüttelte langsam den Kopf. "Es tut mir Leid, aber es ist leider auch ziemlich teuer, jedes Mal aus Crawley hierher zu kommen. Es ist ja auch nicht so, alswenn die irische Bahn zuverlässiger wäre als die britische." Dass wir auch gar keinen Bahnhof in unserem Dorf hatten, ließ sie freundlicherweise anscheinend außenvor. "Was machst du denn eigentlich nach deinem Schulabschluss? Weißt du das schon, Lilly?"

Diese Frage war bei mir genauso unbeliebt wie bei wahrscheinlich allen 16-jährigen Schülern, die überhaupt noch nicht wussten, was sie nach der Schule mit ihremLeben anstellen sollten. "Eigentlich wollte ich ja nachFrankreich", begann ich, "Aber irgendwie gefällt es mir hier doch besser..."

"Du willst also ewig in diesem kleinen... Örtchen bleiben?", fragte sie, und es misslang ihr vollkommen, den schockierten Ton aus ihrer Stimme zu verbannen.


"Ich mag es hier", antwortete ich überzeugt. Früher hatte ich mich auch immer nach Dublin oder gar über die Grenzen Irlands hinaus gesehnt, aber da ich nicht sonderlich gut darin war, Freunde zu finden oder mit dem hektischen Leben einer Stadt zurechtzukommen, blieb ich doch lieber hier.

Das Schwindelgefühl kehrte zurück, sodass ich mich an der Tischkante festkrallen musste, um nicht von dem Stuhl zu kippen. "Sorry, ich... gehe mal kurz ins Bad", brachte ich gerade noch so heraus, bevor ich mich auf dieToilette flüchtete.

Der Boden unter meinenFüßen schien auf einmal uneben zu sein, und obwohl ich fest davon ausgegangen war, dass ich mich direkt übergeben müsste, kniete ichmich auf den Boden, um einfach nur nicht umzukippen. Mir war noch nie so übel in meinem Leben gewesen, und ich merkte, dass langsam alles dunkel um mich herum wurde.


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⏰ Last updated: Nov 30, 2018 ⏰

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