Kapitel 1

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"On pins and needles we are waiting for the fall, no longer recognize this face as my own", schallte Rise Against in voller Lautstärke aus meinen Kopfhörern. Ich werde sie nicht reinlassen. Nicht heute, nicht jetzt. Heute werde ich stark bleiben. Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich auf den Liedtext. Einatmen. Ausatmen. Sie lagen am Schreibtisch und schauten mich an, wissend, dass sie mein einziger Ausweg waren. Ich spürte ihre Blicke durch meine geschlossenen Lider hindurch, hörte wie sie nach mir riefen. Sie lockten mich mit sanften Worten.

***

Als mich etwas am Ärmel berührte zuckte ich leicht zusammen und sah auf. Nina sah mich aus ihren intelligenten grünen Augen an. "Ich hoffe ich habe dich nicht geweckt. Sam hat gekocht, und rate was es gibt. Pizza! Also komm schon, Sam sagt, dass ich erst etwas kriege, wenn alle runterkommen. Jetzt beweg dich!" quengelte sie und zog am Ärmel meines Hoodies.

Ich sperrte meine Gefühle ein und setzte ein Lächeln auf. Dann seufzte ich theatralisch, stand auf und folgte meiner Schwester aus dem Zimmer. Tatsächlich hatten sich alle an die strikten Anweisungen Ninas gehalten und nun saßen die anderen beisammen in der Stube und warteten schon auf uns, während Sam zwei große Bleche Pizza aus dem Ofen zog und Judith jedem Salat reichte. Ich setzte mich und blickte den Tisch entlang. Judith und Sam waren offiziell unsere Betreuer, aber für die meisten von uns waren sie schon zum Elternersatz geworden. Es gab nur wenige, bei denen das nicht zutraf. Karry zum Beispiel, deren Eltern fünf Tage die Woche auf Geschäftsreise waren und sie so unter der Woche bei uns lebte. Oder Ashton, der seiner Mutter weggenommen worden war, weil sie ihn nach dem Tod seines Dads vernachlässigt hatte. Sie durfte ihn trotzdem regelmäßig besuchen. Die restlichen hier kannten ihre Eltern gar nicht oder kaum und viele von ihnen lebten schon hier seit sie denken konnten.

Ich dagegen war erst vor fünf Jahren, mit elf, hierhergebracht worden, nachdem mich sämtliche Pflegefamilien weiterreichten wie ein altes Paar Schuhe. Die einzigen, die mich behalten wollten war meine erste Familie gewesen, die auch am längsten meine Familie war. Sie hatten mich adoptiert nachdem meine Mutter an einer Überdosis Cristal Meth gestorben war. Meinen biologischen Vater hatte ich nie kennengelernt. John und Pierre waren meine beiden perfekten Väter gewesen für acht Jahre, bis sie in einem Autounfall ums Leben kamen. Seitdem hatte mich mein Leben gehasst. Ich schätze das war der Preis für acht sorglose Jahre. "Quinn, willst du nichts?" fragte Judith mich und riss mich damit aus meinen Gedanken. "Was? Achso. Ja, ich nehme mir gleich was, lass mich erst einmal was trinken" redete ich mich heraus und griff nach dem Wasserkrug, um mir etwas einzuschenken. Ich nippte daran und stellte es dann weg. Dann griff ich nach einem Stück Pizza und biss genüsslich hinein. Ich hatte nicht bemerkt, wie hungrig ich gewesen war.

Am Tisch herrschte Schweigen, das nur von Ninas lauten Schmatzen gebrochen wurde. Ich sah zu ihr hin und zwinkerte ihr zu. "Na, schmeckts?" Sie grinste mich mit einem Funkeln in den Augen an und nickte. Nina war mit einem Jahr von ihrer Mutter mit einem kleinen Koffer hier abgesetzt worden und seitdem war diese auch nicht mehr aufgetaucht. Ninas Herz war gebrochen gewesen und sie schrie die Nächte durch und ließ sich von niemandem beruhigen, gar auf dem Arm halten. Das ging so, bis ich ein Jahr später hier nach Baltonwoods ins Heim gezogen war. Als ich sie nachts schreien hörte, war ich zu ihr ins Zimmer gegangen, hatte sie aus ihrem Bettchen genommen und in meinem Arm gehalten und plötzlich war Ruhe gewesen. Sie hatte mich nur aus ihren großen Augen interessiert gemustert. Ich hatte sie mit zu mir ins Zimmer genommen und als ich am nächsten Morgen aufwachte schlief sie friedlich in meinen Armen. Irgendwann kam Sam herein, dessen panischer Blick sich legte, als er Nina in meinen Armen fand. Dann legte sich zuerst ein verwirrter Blick auf sein Gesicht und dann ein breites Grinsen, mit dem er dann Judith holte, damit sie sich selbst von der friedlich schlafenden Nina überzeugen konnte.

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⏰ Last updated: Dec 29, 2018 ⏰

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QuinnWhere stories live. Discover now