Kapitel 1

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Ein uralter Kodex der Gaara besagt: „Wenn du in deinem Leben mindestens einen Drachen tötest, wird es dir an Reichtum und Glück nicht mangeln. Doch wenn du die Drachen nicht als deine Feinde siehst oder die Drachen beschützt, wirst du als Feind des Volkes gesehen und mit der Todesstrafe bestraft." Alle großen Krieger haben sich an diesen Kodex gehalten und sie werden bis heute dafür verehrt. Auch das jetzige Oberhaupt, Rethas, will in die Geschichte eingehen. Er hat seinen Sohn Gatharass zu einem leidenschaftlichen Drachenjäger erzogen und geht mit ihm jeden Tag auf die Jagd. Doch seine Tochter Ajara ist anders. Ihre Mutter, die von den Drachen getötet worden ist, hat ihr immer Geschichten über die früheren Drachen erzählt, als noch Frieden zwischen Menschen und den geflügelten Herrschern des Himmels geherrscht hat. Manchmal erinnert sie sich daran, doch im Moment hat sie jeden Gedanken an ihre Mutter oder die Geschichten verdrängt. Das junge Mädchen hat einen Pfeil in ihren Bogen eingelegt und späht vorsichtig von dem Baum herunter, auf dem sie sitzt. Unter ihr grast eine Herde Darreg. Ein Darreg ist ein etwa pferdgroßes Tier mit viel Haar und einer friedlichen Art, doch ein Darreg kann einem Mann den Arm brechen, wenn er sich bedroht fühlt. Sein Fleisch ist sehr nahrhaft, sein Fell hält einen Menschen den ganzen Winter über warm und die Winter im Schattengebirge sind lang. Vorsichtig legt sie den Pfeil in den Köcher zurück und klettert Ast für Ast nach unten. Durch das Tuch, das sie sich über Mund und Nase gezogen hat, kann sie in der kalten Luft des Waldes ihre eigene Atemwolken sehen. Als Ajara auf der richtigen Höhe zum Schießen ankommt, zieht sie erneut einen in Nervengift getauchten Pfeil aus dem Köcher und legt ihn in die Sehne ein. Mit einer Geschmeidigkeit, die nur mit langer Übung erreicht werden kann, spannt sie den Bogen und ziehlt auf einen größeren Darreg, der etwas außerhalb der Gruppe steht. Ajara lässt den Pfeil los und das Geschoss trifft das ahnungslose Tier im Nacken. Der Rest der Herde sprengt, von den Schreien des Verwundeten aufgescheucht, davon und lässt das todgeweihte Tier zurück. Ajara schleicht sich langsam an und zückt ein langes Messer. „Hey, Kleiner! Ich will dich nur erlösen." Doch der Darreg lässt sich nicht beruhigen und geht sogar auf sie los. Nur mit dem Messer bewaffnet, Pfeil und Bogen auf dem Rücken, stellt sie sich dem Tier. Das junge Mädchen weicht dem ersten Schlag aus und rammt den Tier die Klinge von unten in den Kopf, wo er am verletzlichsten ist. Die Jägerin zieht die Waffe wieder aus dem Toten Tier und der Darreg fällt regungslos neben ihr zu Boden.

Das junge Mädchen macht sich daran, das Tier zu zerlegen. Sie zieht ihm die Haut ab, nimmt ihn aus, vergräbt seine Eingeweide und verstaut die anderen Überreste, Knochen, Fleisch und Fell in einem aus robustem Leder gemachten, großen Beutel, den sie sich über die Schulter hängt. Dann macht sich das junge Mädchen auf den langen Heimweg. Auf ihrem beschwerlichen Marsch folgt Ajara nur alten, ausgetretenen Pfaden. Plötzlich hält sie inne, denn ein Stück vor ihr Rascheln die Blätter. Gedankenschnell zieht sich das junge Mädchen auf einen nahegelegenen Baum und drückt sich gegen den Stamm. Auf einmal hören ihre übermenschlich guten Ohren ein fernes Rauschen und sie weiß sofort, dass es ein Drache ist. Im nächsten Moment rast eine große geflügelte Echse mit weiß-goldenen Schuppen und einem langen, schlanken Körper über sie hinweg, während die besten Krieger ihres Dorfes unter ihr den Weg entlang stürmen. Seit Jahrhunderten jagen die Gaara, das Volk des Schattengebirges, die Drachen, aber nicht nur wegen den großen Hörnern und dem Fleisch, sondern auch weil manche Drachen so leichte und robuste Schuppen haben, dass die großen Anführer eine Rüstung aus Drachenschuppen getragen haben. Als die ungefähr zwanzig Männer vorbei gerannt sind, lässt sie sich von dem Baum gleiten und folgt ihnen so leise es geht. Plötzlich ertönt vor ihr ein Gebrüll, dass ihr fast das Blut in den Adern gefriert, ein lautes Krachen und fernes Kampfgeschrei, als der getroffene Drache zu Boden stürzt. Dann spürt sie die Hitze des Feuers, das der Drache spuckt. Und plötzlich sieht sie es. Ein weiß-gleißendes Feuermeer, das die selbe Farbe wie die Schuppen des Drachen hat, blendet sie. Als Ajara ihre Augen wieder öffnet, sieht sie plötzlich, dass ihr Bruder Gatharass am Hals der Bestie hängt und sein Schwert zieht, während ihr Vater ihn anfeuert. Auf einmal spürt Ajra selbst, als wäre sie an Stelle des Drachen, die Angst vor dem Tod und eine Sehnsucht, noch einmal seine Liebsten zu sehen. Dann reißt die Verbindung abrupt und das junge Mädchen taumelt. „Was war das für ein Gefühl, dass ich gerade für einen Feind empfunden habe?", fragt sie sich. Dann hört Ajara, wie als wäre sie unter Wasser, wie die Leiche des Drachen zu Boden fällt und die verbliebenen Krieger in Jubelgeschrei ausbrechen. Plötzlich erwacht sie aus ihrer Starre und eilt, die Vorratsbeutel über der Schulter hängend, zurück in ihr Dorf. Ihr Vater hat ihr befohlen, sich von einer Drachenjagd fernzuhalten, deshalb muss sie vor den Jägern im Dorf sein.

Dragongirl - Zwischen zwei Welten Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt