Kapitel 42

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Mein Mund wurde plötzlich staubtrocken, und meine Augen wuchsen.

Ich hatte immer gewollt, dass Harry sich endlich öffnete, und jetzt, wo er es größtenteils tun wollte, machte ich mir fast in die Hose.

Harry nahm meinen Gesichtsausdruck zur Kenntnis, und seine Mundwinkel hoben sich leicht. "So schlimm ist es auch nicht, ich bin kein Massenmörder."

Ich nickte nur eifrig. Es war nicht die richtige Zeit, um zu spaßen, wenn Harry gerade dabei war, diesen Schritt zu gehen.

"Okay..." Harry schluckte. "Du solltest wissen, dass niemand vorher alles erfahren hat. Ich weiß also nicht, ob ich total umständlich und kompliziert erzählen werde."

Er redete um den heißen Brei herum, das wussten wir beide.

"Wenn du dich nicht danach fühlst, Harry, kann ich warten. Du hast auf mich gewartet, was das von letzter Nacht anging und ich warte auf dich, wenn du es dir so wünschst."

Harry schüttelte meine Bemerkung mit einer wegwerfenden Geste ab. "Lehn' dich einfach nur zurück, und genieß' die Geschichte von meinem abgefuckten Leben."

Und so in etwa tat ich dies auch. Ich lehnte gegen einen großen Stein, während Harry immer noch an dem Baum saß, der viele Erinnerungen an sich band.

Wie saßen dort, wie zwei Fremde, ohne Körperkontakt. Doch dies war okay, denn als Harry die Augen schloß und schluckte, wusste ich, dass er diese Distanz brauchte.

"Naja, die ersten Jahre meines Lebens waren wir alle die perfekte Vorzeigefamilie. Meine Eltern liebten sich, wir waren glücklich, hatten ein nettes Haus, und dieser ganze Scheiß. Bis auf den einen oder anderen Streit waren Gemma und ich unzertrennlich, ich entdeckte langsam meine Neigung zum Zeichnen und Gemma war die absolute Streberin, was Schulnoten anging. Eines Tages erzählte Anne uns, dass sie erneut schwanger war - ich war ungefähr zehn, und Gemma vierzehn. Wir freuten uns alle; der Mann, den ich meinen leiblichen Vater nennen darf, besonders. Zwischen Gemma und mir liefen Wetten, welches Geschlecht das kleine Ding in Annes Bauch haben würde. Wir konnten es kaum erwarten, bis diese schrecklichen neun Monate endlich vorbei waren. Bevor ich weiter erzähle, solltest du wissen, dass wir für dieses kleine Ding auch umgezogen sind. Wir waren also an diesem einen Tag im neuen Haus, streichen und dieser ganze Mist. Allerdings standen überall Farbtöpfe und Pinsel, und Anne und Des befahlen uns mehrere Male, ganz vorsichtig zu sein. Wie du dir denken kannst, hatte der kleine Harry etwa so wenig Wert auf Befehle gelegt, wie der Große. Und das war einer meiner Fehler."

Obwohl dies erst die Vorgeschichte war, sah man ihm an, wie gerne er alles verdrängen würde. Auch wenn er es durch Witze auflockern wollte, er atmete schwerer und schluckte oft.

Gerne hätte ich seine Hand gedrückt, oder ihm irgendwie gezeigt, dass ich für ihn da war. Doch er schien in seiner eigenen Welt zu stecken, während er auf das Wasser starrte und seine Augen glitzerten wie Diamanten.

"Gemma und ich konnten nicht widerstehen, und tobten durch die riesigen Räume und Flure. Dabei..." Er kniff die Augen zusammen, als würde alleine der Gedanke ihm weh tun. "Dabei bin ich gegen Anne gerannt, als sie nichtsahnend durch das Haus schlenderte. Sie fiel... Sie fiel auf einen verdammten Farbtopf. Ihr Bauch schlug auf die Ecke des verdammten Topfes auf. Ich erinnere mich an alles... An den Schrei von ihr, an Gemmas panische Blicke, an das Blut."

Ich keuchte erschrocken auf. Diese Geschichte war so ganz anders, als ich sie erwartet hatte.

"Nach diesem Moment gibt es nur noch Erinnerungsfetzen in meinem Gedächtnis. Des' verzweifelte Schreie, Annes Wimmern, die Sirenen, meine lähmende Angst." Er lächelte bitter. "Ich will dir die langweiligen Details ersparen, und sofort zum Punkt kommen: Fehlgeburt. Das war der Tag, an dem alles begonnen hat, den Bach runter zu gehen."

Unmistakable || h.sWhere stories live. Discover now