6. Was sich hinter dem Regal verbirgt

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Nach dem Aufwachen fühlte ich mich verwirrt und zerschlagen. Wahrscheinlich lag es an dem seltsamen Traum oder dem Buch von gestern Abend.
Ich ging in den Waschraum, wo eine kichernde Gruppe 12-jähriger meine Nerven schon am frühen Morgen strapazierte. Ich ging frühstücken und nachdem meine heutigen Aufgaben erledigt waren, wusste ich nicht, was ich weiter tun sollte.
Wie immer, wenn das der Fall war, führte mich mein Weg in die Bibliothek. Vormittags war dort nie Jemand, weil die Mädchen Unterricht hatten.
Der Computer rührte sich nicht, wie so oft. Also stand ich vor den Bücherregalen und überlegte, was ich lesen sollte. Die Auswahl war begrenzt und ich hatte mittlerweile alles gelesen. Ich zog unentschlossen einige Bücher hervor und versuchte zu entscheiden, was ich gerne noch einmal lesen wollte. Aber irgendwie fiel es mir heute besonders schwer.
Ich zog das ein oder andere Buch heraus und las einige Seiten, stellte letztlich aber jedes Buch wieder an seinen Platz. Am dritten Regal bemerkte ich dann, dass mehrere Bücher durcheinander standen. Verärgert runzelte ich die Stirn und machte mich daran die Bücher an ihre korrekten Plätze zu stellen. Dabei bemerkte ich die nicht zu leugnende Staubschicht auf den Regalen und deren Inhalt.
Also zog ich los und holte einen Eimer mit Wasser und zwei Tücher. Mit dem einen konnte ich feucht die Regale auswischen und mit dem anderen die Bücher abstauben. Zufrieden damit eine Aufgabe gefunden zu haben, begann ich bei dem Regal neben der Tür und räumte ein Regalbrett frei, um es auszuwischen. Dabei nahm ich jedes Buch in die Hand, wischte es ab und kontrollierte es auf Fehler, die repariert werden mussten. Die reparaturbedürftigen Bücher legte ich auf einen Stapel auf einen Hocker und arbeitete mich Regalboden für Regalboden vor. Bald schon war ich beim zweiten Regal angelangt und wischte mir unwirsch meine Locken aus dem Gesicht, die mittlerweile auf meiner von leichtem Schweiß überzogenen Stirn festklebten. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich heute Morgen vergessen hatte mein Haar zu flechten. Das war etwas, das ich normalerweise immer nach dem Aufstehen tat.
Ich musste von dem Traum verwirrter gewesen sein als ich dachte. Verärgert darüber in meiner Arbeit unterbrochen zu werden, wickelte ich meine Haare auf und aus Mangel einer Alternative schob ich einen Stift von dem Schreibtisch hindurch um weiter zu arbeiten.
Dabei fiel mein Blick auf mein eben freigeräumtes Regalbrett und ich runzelte die Stirn. Das Brett war schief.
Der zweite Stift, den ich vom Schreibtisch geholt hatte, falls einer meine Frisur nicht halten würde, und den ich auf das Brett gelegt hatte, war vorne heruntergerollt und auf den Boden gefallen. Während ich den Stift aufhob und in meinen Haarknoten schob, musterte ich das Regal und stellte fest, dass es insgesamt schief stand und nach vorne geneigt war. Ich versuchte, es zu verschieben, um herauszufinden, warum es schief stand, doch es rührte sich nicht. Auf allen vieren kroch ich um das Bücherregal herum. Irgendwas musste dort festklemmen. Oder war das Regal selbst kaputt und musste repariert werden? Nachdem ich die Lappen und den Eimer mit dem mittlerweile dreckigen Wasser weggestellt hatte, räumte ich das ganze Regal frei und stapelte die Bücher ordentlich in einer Ecke des Raumes.
Jetzt wo es leer war, müsste ich das Regal bewegen und feststellen können, warum es schief stand. Beim Versuch stieg mir eine gewaltige Staubwolke in die Nase. Nach einem gepflegten Niesanfall, der mich nach Luft schnappen ließ, drückte ich mich mit meinem gesamten Gewicht gegen das schwere Holzungetüm. Immer noch rührte sich nichts. Mit Schwung warf ich mich dagegen und knarzend bewegte es sich ein kleines Stück zur Seite und gab den Blick dahinter auf die Wand frei. Ich verzog das Gesicht als ich die Spinnweben und den Dreck von Jahrzehnten entdeckte. Jetzt bekam ich die Finger hinter das Regal und zog fest daran, um es noch etwas nach vorne zu bewegen und sehen zu können, was sich dahinter befand. Da es so dunkel und dreckig war, traute ich mich nicht, meine Hand in die Dunkelheit zu schieben. Ich sah mich um und entdeckte auf dem Schreibtisch die Lampe. Das Kabel war lang genug, damit ich hinter das Bücherregal leuchten konnte.
Ich schaltete die Lampe an. Tatsächlich klemmte dort etwas zwischen Wand und Regalrückwand fest. Es hatte in etwa Buchgröße, schien aber das Licht leicht zu reflektieren. Mit dem Lappen wedelte ich den gröbsten Dreck weg, steckte meine Hand todesmutig in den Spalt und tastete nach dem Objekt. Nach einigen Momenten hatte ich es in der Hand und zog es vorsichtig heraus.
Es war ein Buch und steckte in einer Tüte aus einem seltsamen durchsichtigen, aber völlig eingestaubten Material. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Vielleicht war es dieses Plastik, von dem ich schon mehrfach gelesen hatte. Das war schon vor langer Zeit abgeschafft worden Tüten wurden seither nur noch aus recycelten oder nachwachsenden Rohstoffen gefertigt. Nach den Beschreibungen, die mir in den Sinn kamen, musste es aber Plastik sein.
Sehr seltsam. Wer hatte sich die Mühe gemacht ein Buch in einer Plastiktüte hinter einem Regal zu verstecken? Oder war es nur durch Zufall dorthin gelangt? Und wie lange hatte es schon dort geklemmt und darauf gewartet, dass es Jemand fand?
Mit mittlerweile schnell klopfendem Herzen zog ich das Buch aus der Tüte und fand es vollkommen unversehrt vor. Der Titel lautete: ‚Computer für Dummies'.
Ich fragte mich, ob es das bedeutete, was ich hoffte und schlug das Buch aufgeregt auf.
Unglaublich! Ich hatte ein neues, mir vollkommen unbekanntes, Buch gefunden. Ich war schon lange nicht mehr so aufgeregt gewesen, bevor ich ein Buch aufgeschlagen hatte. Noch dazu eines, dass Informationen enthielt über Computer und deren Funktionsweise. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Unsere Bibliothek hier im UBH enthielt fast nur Unterhaltungsliteratur und ein paar wenige Sachbücher, die das System als Lehr- und Lernmaterial freigab.
Ein lautes Knarzen ließ mich zusammenfahren als die Tür aufging.
Ich schob meine Hand mit dem Buch hinter meinen Rücken und sah zur Tür.
Dort stand Henrietta mit einer Kerze in der Hand.
„Was tust du noch hier?", fragte sie etwas verwirrt.
Irritiert und mit wild klopfendem Herzen, sah ich mich um und bemerkte bei dem Blick aus dem Fenster, dass es schon später Abend war. Jetzt knurrte mein Magen, um mir zu verdeutlichen, dass es Zeit fürs Essen war.
Henrietta sah sich im Raum um und sah zumindest nicht verärgert aus. Sie begutachtet meine Lappen und Eimer und den Stapel mit reparaturbedürftigen Büchern.
„Du räumst hier auf, so dass der Raum morgen benutzt werden kann. Die Bücher bringst du in mein Büro, ich kümmere mich darum, dass sie repariert werden", sagte sie.
Mit immer noch klopfendem Herzen nickte ich.
„Gute Nacht."
„Gute Nacht", presste ich krächzend hervor. Als meine Stimme so rau aus mir hervorkam, fragte ich mich, wann ich das letzte Mal gesprochen hatte und musste feststellen, dass es das kurze Gespräch im Amt mit dem Mädchen und die folgende Geschichte meines „fatalen Fehlverhaltens" gewesen war.
Ich legte das Buch in die Kiste hinten in der Ecke in der Bücherei, wo ich auch mein Lieblingskissen lagerte. Ich wickelte es wieder in die Tüte und schob es in den ramponierten Bezug des Kissens. Dann legte ich das Kissen mit dem Buch unten in die Kiste und stapelte andere Bücher darauf. Dort würde es so schnell niemand finden. Ich räumte alles auf und stellte dabei seufzend fest, dass ich wieder einmal das Essen verpasst hatte. Mit einem Blick auf die Dunkelheit draußen beschloss ich, dass ich ins Bett musste.
Erschrocken rannte ich los, um die Hühner in den Stall zu lassen. Hoffentlich waren sie noch alle da. Zu meinem Glück saßen sie alle auf ihren Stangen und gackerten mich vorwurfsvoll an. Ich schloss die Luke und warf ihnen ein paar Körner hin, obwohl ich mich fragte, ob das eine gute Idee war. Denn schließlich hatten sie schon geschlafen.
Aber zur Not waren die für morgen.
Dann machte ich mich auf ins Bett.

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt