Kapitel 1 - Stilles Leid

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"In einer Welt, in die wir nicht gehören,"
"suchen wir nach dem Sinn unseres Daseins."
"Beobachtet von allen Seiten,"
"besteigen wir diesen Berg der Ungewissheit."
"Die Märchenbücher aus unserer Kindheit,"
"halten nur mehr Wünsche aus einem früheren Leben."
"Wie die tiefste Nacht verschlingt sie uns."
"Diese Ungewissheit..."

"Hooooiiiii." Lia zuckte erschrocken zusammen und starrte das Mädchen neben sich an. Sie brauchte einen Augenblick um sich daran zu erinnern wo sie gerade war. Vor ihr breitete sich ein langer, dunkelbrauner Holztisch aus. Stimmen aus allen Richtungen diskutierten oder plauderten über die verschiedensten Dinge. Lia konnte bis auf das Pult hinunter sehen, an dem der Professor in wenigen Minuten eine Vorlesung halten würde. Oh ja, sie war ja noch in der Uni.

"Was...was ist, Momo?"

"Du warst mal wieder auf Stand-by", gab diese unbekümmert zurück während sie versuchte ein Schiff mit einem Blatt Papier aus ihrem Notizblock zu falten.
Momo war Lia's einzige Freundin auf der gesamten Universität. Niemand anderes hatte großes Interesse daran mit jemandem involviert zu sein, der durch seine Familie gesellschaftlich ziemlich an der Spitze stand. Lia's Eltern waren beide äußerst bekannte Besitzer eines Großkonzerns, die in Rekordzeit zu Millionären aufgestiegen sind. Durch regelmäßige Auftritte in Zeitungen, den Nachrichten und gelegentlich auch auf Plakaten war die Familie Reih in der ganzen Stadt bekannt. Begeistert war Lia davon allerdings nie, seit ihrer Kindheit wurde sie immer als hochnäsig und oberflächlich abgestempelt. Zugedeckt mit Geld konnte sie doch niemals wie ein normaler Durchschnittsmensch sein, zumindest waren solche Aussagen schnell in Umlauf. Zudem war die Firma ihrer Eltern durch einige Skandale nicht gerade beliebt, wilde Gerüchte und Spekulationen standen regelmäßig auf der Tagesordnung. Letzten Endes redete jeder nur hinter ihrem Rücken und ignorierte sie wenn es darauf ankam.
Sie lächelte ihre Freundin entschuldigend an.
"Sorry, ich war mit meinen Gedanken mal wieder wo anders."
Sie blickte zurück auf das Gedicht, das sie vorher geschrieben hatte, während alles um sie herum wie ausgeblendet war. Momo folgte ihrem Blick und lehnte sich nach vor um zu erkennen was sie geschrieben hatte. Als sie das Gedicht laß verfinsterte sich ihr Blick.

Besorgt sah sie Lia an. "Schon wieder so ein furchtbares Gedicht...langsam solltet ihr wirklich in Erwägung ziehen eure Eltern und diese Stadt hinter euch zu lassen. Wieso zieht ihr nicht an einen Ort, wo ihr beide euer Glück finden könnt ohne ständig von verurteildenden Blicken verfolgt zu werden?!"
Ein müdes Lächeln huschte über Lia's Gesicht, während ihr Blick nach wie vor auf das Gedicht gerichtet war.
"Wenn es nur so einfach wäre...doch du kennst meine Gründe. Ich hätte nicht die Mittel um ihr ein schönes Leben zu bieten. Außerdem-", fügte sie hinzu als sie merkte, dass Momo schon ihren Mund öffnen wollte um zu protestieren, "-habe ich das Gefühl, dass sie in letzter Zeit irgendetwas unglaublich belastet. Ich weiß nicht genau was...immer wenn ich es anspreche, verfällt sie in tiefes Schweigen oder blockt komplett ab. Ich weiß nicht was ich noch tun soll um ihr zu helfen...aber in diesem Zustand können wir nicht einfach waghalsige Entscheidungen treffen."
Momo's Blick wurde weicher, doch ihre Stimme klang immer noch besorgt.
"Hast du schon daran gedacht, dass es ihr immer schlechter geht, WEIL ihr nach wie vor hier seid?"
Lia verkrampfte unwillkürlich ihre Schultern. "Natürlich habe ich das. Aber ich kann einfach nichts riskieren. Nicht bei ihr." Sie spürte wie eine Hand sich um ihre Schultern legte und ließ ihren Körper langsam in Momo's Umarmung sinken. Sie hatte wirklich Glück jemanden gefunden zu haben, dem sie ihre Sorgen und Probleme hin und wieder erzählen konnte. Jemand, der sie nicht wegen dem Ansehen ihrer Familie bewertete. Doch letzten Endes lag es alleine an ihr diese Sorgen und Probleme aus der Welt zu schaffen.

Nach dem Unterricht verabschiedete sich Lia und machte sich auf den Weg zum Gymnasium die Straße runter. Dort angekommen setzte sie sich auf die rote, etwa hüfthohe Mauer aus Ziegelsteinen, die direkt vor dem Haupteingang der Schule befestigt war. Nach etwa zwanzig Minuten strömten Schüler aller Altersstufen aus dem alten Gebäude, entweder um auf Schulkollegen zu warten oder um den Heimweg anzutreten. Nachdem sich die Masse aufgeteilt hatte erkannte Lia eine kleine Silhouette durch die großen Eingangstüren und stand auf. Mit den Schuhen am Boden schleifend und mit gesenktem Blick trat ein zierliches Mädchen aus dem Schulgebäude. Ihre Augen waren von ihrem Pony verdeckt, doch Lia konnte an ihrer gesamten Körperhaltung sehen wie verkrampft und unsicher sie war.

Langsam ging sie auf das zierliche Mädchen zu und nahm sie vorsichtig in den Arm. Dieses erwiderte die Umarmung nicht, sondern stand regungslos da.
"Hey, Schwesterherz. Bereit den Weg nach Hause anzutreten?", fragte Lia während sie einen kleinen Schritt zurück machte.
Das Mädchen nickte kurz. Vorsichtig hob Lia ihr Kinn an um ihr direkt in die Augen sehen zu können. Sie waren leicht angeschwollen und glasig, so als hätte sie den ganzen Tag über geweint.
Sie streifte sanft ihre Haare auf die Seite, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte mit einem Lächeln im Gesicht: "Na los, Anna. Lass uns gehen."

Während sie ihren Heimweg antraten hoffte Lia inständig, dass ihre kleine Schwester nicht mitbekommen hatte, wie kurz sie selbst davor war in Tränen auszubrechen.

Sisters HeartWhere stories live. Discover now