Kapitel 2

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Immer noch der 22. August
Für die Röntgenaufnahmen musste ich meinen Oberkörper komplett entkleiden und meinen nackten Busen dann gegen eine Metallplatte drücken. Die Schwester, die bei den Aufnahmen assistierte, war zwar nett, erkundigte sich für meinen Geschmack aber etwas zu häufig danach, ob alles in Ordnung sei.
Als ich da also stand und meine immer noch nackten Brüste gegen die immer noch kalte Metallplatte drückte, fragte sie gefühlt zum hundertsten Mal in lieblichem Ton: »Ist es sehr kalt, Liebes?«
Zu gerne hätte ich in diesem Moment einen fiesen Spruch abgelassen, so wie ich es immer tat. Doch sie war die erste Person an diesem Tag, bei der ich mir nicht zehn verschiedene Weisen überlegte, wie ich sie mit ihrer dämlichen Krankenhausuniform erdrosseln könnte. Also antwortete ich nur: »Die Finger von Doktor Diebel waren eindeutig kälter – und von denen habe ich auch keine harten Nippel bekommen.« Sie lachte, auch wenn ich mir sicher war, dass sie es nur aus Höflichkeit tat.
Nachdem alle Aufnahmen gemacht waren, durfte ich mich wieder anziehen. Ich begab mich auf Anweisung der netten Schwester in einen Nebenraum, in dem meine Mutter bereits saß und an einem Plastikbecher mit dampfendem Kaffee nippte. Uns wurde gesagt, dass der Arzt uns holen würde, sobald die Bilder entwickelt worden seien. Also warteten wir. Wieder einmal.
Die Aussicht darauf, nochmals stundenlang auf einem dieser schrecklichen Krankenhausstühle zu sitzen, ließ meinen ohnehin schon geschundenen Hintern unangenehm kribbeln, und so begann ich, ungeduldig im Zimmer herumzutigern. Doch schnell wurde auch das langweilig, weshalb ich mich dazu entschied, eine der Toiletten, die sich draußen auf dem Gang befanden, aufzusuchen, um mich frisch zu machen. Während ich mir die Hände wusch, betrachtete ich mich in dem kleinen Spiegel, der über dem Spülbecken angebracht war.
Ich stellte fest, dass ich schrecklich ausgemergelt aussah. Meine glatten braunen Haare, die ich in einem zerzausten Pferdeschwanz trug, wirkten glanzlos und dünn, mein Gesicht hager, und die blauen Augen hatten schon vor langer Zeit ihr Strahlen verloren. Das Einzige, was in meinem Gesicht noch funkelte, waren die Piercings, die das Deckenlicht reflektierten. Angewidert von mir selbst, verließ ich die Toilette wieder und begab mich zurück in das Wartezimmer, wo ich mich ans Fenster stellte, sodass ich auf die Stadt hinter der Scheibe blicken konnte – die Stadt, in der ich mich so unsagbar fremd fühlte.

Wir waren hierhergezogen, weil meine Mom es nicht mehr mit meinem Dad ausgehalten hatte. Wenn ich sie nun so ansah, war ich mir mittlerweile unsicher, ob es nicht vielleicht andersherum gewesen sein konnte. Jedenfalls hatten wir zuvor in einem großen Haus auf dem Land gewohnt, bis ich ungefähr zwölf war. Noch Jahre später tauchte dieses Haus in meinen Träumen auf, und ich sehnte mich eine sehr lange Zeit danach.
Ich hatte mir gewünscht, dass alles wieder wie früher wurde. In unserem alten Zuhause schien alles in Ordnung gewesen zu sein: das mit Mom und Dad, und das mit mir. Dort waren wir glücklicher und unbeschwerter. Na ja, so wirklich konnte ich es meiner Mutter jedoch nicht verübeln, dass sie aus dem Haus rauswollte, in dem mein Vater seine Kollegin gevögelt hatte, während sie und ich meinen Gramps besuchten.
Anfangs war ich furchtbar sauer auf meinen Vater gewesen – immerhin hatte er unsere Familie zerstört. Doch je älter ich wurde, umso eher erkannte ich, dass Menschen fehlbar waren und Dummheiten begingen, oftmals ohne sich bewusst zu machen, wen sie damit verletzten. Dass sie sich ihr Leben dadurch vor allem selbst schwer machten, wurde den meisten erst klar, wenn sie mit den Konsequenzen ihrer Taten und ihrem schlechten Gewissen konfrontiert wurden. Mein Vater konnte leider nicht damit umgehen.
Vielleicht wäre alles anders gelaufen, wenn ich ihm rechtzeitig gesagt hätte, dass ich ihm verziehen hatte. Doch dann war es bereits zu spät, und ich musste am eigenen Leib erfahren, wie es war, mit den Auswirkungen meiner Handlungen zu leben. Und so hatte ich begonnen, mich für diesen, aber auch für alle meine anderen Fehler selbst zu hassen.

»Sind Sie die berühmte Jesslyn Bender?«, eine tiefe Stimme drang an mein Ohr, und ich fuhr herum.
Im Türrahmen auf der gegenüberliegenden Seite des Raums stand ein großer, schlaksiger junger Mann in einem knittrigen Kittel. Auf seinem Kopf herrschte ein braunes Haar-Wirrwarr, und grüne Augen funkelten belustigt hinter einer Brille hervor. Es passierte ziemlich selten, dass ich jemanden auf Anhieb derart sympathisch fand.
»Wenn Sie Autogramme wollen, besprechen Sie das mit meinem Manager«, antwortete ich gespielt unbeeindruckt und betrachtete dabei meine lackierten Nägel in Hollywood-Manier. Doch dann schenkte auch ich ihm ein Lächeln.
Der Arzt bedeutete uns, ihm in sein Büro zu folgen. Als wir an seinem Schreibtisch Platz nahmen, begann er sofort in seinen Unterlagen zu kramen. Auf dem riesigen, massiven Schreibtisch vor uns herrschte heilloses Durcheinander, ähnlich wie auf seinem dichten Lockenkopf.
»Ich bin übrigens Doktor Tommens«, stellte er sich vor, während er nach einer Akte griff, aus der er ein paar schwarz-blaue Röntgenaufnahmen hervorzog. Die Brille zurechtrückend, betrachtete er die Bilder intensiv, legte sie dann aber kopfschüttelnd wieder beiseite.
»Wussten Sie, dass bereits drei Abteilungen von Ihnen sprechen, Miss Bender? Sie haben einen ganz schönen Rummel veranstaltet!« Er grinste mich breit an. »Sehr erfrischend, muss ich zugeben.«
»Einen Rummel veranstalten ist meine Spezialität.«
»Das reicht jetzt, Jesslyn!«, ermahnte meine Mutter mich, und ich konnte ihre bohrenden Seitenblicke spüren.
Mit einem zynischen Lächeln auf den Lippen drehte ich mich zu ihr um. »Ich vergaß, dass du ja von uns allen hier am besten weißt, wo deine Grenzen liegen.« Nicht wissend, was sie darauf erwidern sollte, verschränkte meine Mom mit einem empörten Schnauben die Arme vor der Brust.
»Ähm, nun ja …«, räusperte sich Doktor Tommens verlegen. Dieser kurze, aber scharfe Austausch war ihm sichtlich unangenehm. Ich hatte den Eindruck, dass er auf einmal wesentlich lauter und nervöser auf seinem Tisch herumkramte. »Ah, hier ist sie ja endlich!« Triumphierend und sichtlich erleichtert hielt er kurze Zeit später eine braune, aus Pappe angefertigte Akte in die Höhe.
Er schlug die Unterlagen auf, und von diesem Moment an haftete mein Blick an seinem nun hoch konzentrierten Gesicht. Seine grünen, von dichten Wimpern gesäumten Augen zuckten über die Papiere, ein Finger lag an seinem zugekniffenen Mund. Je länger er las, desto finsterer wurde seine Miene. Bittere Galle stieg mir den Hals hinauf, als ich sah, wie er sich durch die wirren Haare fuhr. Am liebsten hätte auch ich meine Finger in die weich aussehenden braunen Locken gegraben. Irgendwie hatte es den Anschein, als wirkte es beruhigend auf ihn.
Plötzlich sprang Doktor Tommens auf, strich sich den weißen Kittel am Bauch glatt und ging hinüber zu der leuchtenden Tafel, an der er ein paar Röntgenaufnahmen anbrachte. Die Sohlen seiner Schuhe quietschten auf dem Linoleumfußboden. Still beobachteten wir, wie er die Bilder minutenlang in Augenschein nahm, bevor er sich wieder in seinen gepolsterten Sessel setzte und die Hände vor sich auf dem Tisch faltete. Er wirkte um Jahre gealtert, jetzt wo sein Ausdruck so ernst und versteinert war.
Mein Blick flog zurück zu den Aufnahmen an der Tafel und blieb an der grauen Masse hängen, die anscheinend meine Lungenflügel darstellen sollte. Fasziniert huschten meine Augen über die vielen Verästelungen, dann über die Bronchien, die deutlich zu erkennen waren, und stolperten schließlich über einen Schatten, der irgendwie fehl am Platz wirkte. Ich wollte am liebsten »Hey, Doc, da hat wohl jemand Tinte auf meinen Röntgenaufnahmen ausgeschüttet« sagen, doch die Worte blieben mir in der Kehle stecken.

Mein ganzes Leben lang hatte ich so getan, als wäre Schmerz eine Art Nebenwirkung des Lebens. Dass er einfach dazugehörte und man ihn in Kauf nehmen musste. So hatte ich es getan, als meine Eltern sich trennten und wir in diese dämliche Stadt zogen, und auch, als mein Vater uns gestand, dass er ein Kind – einen Jungen – mit seiner langjährigen Affäre gezeugt hatte. Dieser erste richtig große Schmerz hatte sich zum Glück gelegt, als sich herausstellte, dass dieser Junge mein inniger Seelenverwandter war.
Auch später hatte sich jegliches Leid irgendwie verflüchtigt, nachdem ich gemerkt hatte, dass man dafür nur die Unterstützung entsprechender Mittel brauchte. Meine Mutter hatte mir das ja schließlich den Rest meiner kläglichen Jugend vorgemacht. Und so hatte ich die meiste Zeit damit verbracht, nach Dingen zu suchen, die das Leid in mir zumindest temporär vertreiben konnten. Es war mir egal, ob ich damit anderen Menschen oder gar mir selbst Schaden zufügte.
In dem Augenblick jedoch, als ich diesen kleinen Schatten auf der Röntgenaufnahme sah, machte sich ein beklemmendes Gefühl in mir breit. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass ich für all die schlimmen Dinge irgendwann eine Quittung bekommen musste. Obwohl ich keineswegs gläubig oder abergläubisch war, erschien mir das seltsam plausibel.

»Miss Bender«, setzte Doktor Tommens nun mit belegter Stimme an, »ich muss Ihnen leider mitteilen, dass der Befund in Ihrem Fall relativ eindeutig ist. Dieser Fleck, den Sie da auf den Röntgenbildern sehen können, ist mit aller Wahrscheinlichkeit ein Tumor.«
Ich schluckte, nicht fähig, irgendetwas zu sagen. Wo war meine große Klappe nur, wenn man sie mal ernsthaft brauchte? Ich hörte meine Mutter neben mir nach Luft schnappen.
»Wir werden anhand einer Gewebeprobe feststellen, ob er bösartig ist oder nicht …« Doktor Tommens’ Stimme verlor sich, und meine Gedanken schweiften wieder ab. Eine Erinnerung blitzte auf, zwar verschwommen, doch von unfassbar starken Emotionen begleitet.

Meine Mom und ich waren vor nicht allzu langer Zeit in die kleine Wohnung in der Stadt gezogen und saßen eines Abends in einem Diner. Während ich meinen Milchshake trank und Pommes in diesen dippte – eine Eigenart, die mir auch noch bis nach meinem Schulabschluss erhalten bleiben würde –, telefonierte meine Mom mit meinem Dad. Ich lauschte ihrer zornigen Stimme. Seit einer halben Stunde stritten sich die beiden bereits. Meine Mutter hatte sich so in Rage geredet, dass ihr nicht einmal auffiel, wie der Burger, der vor ihr auf dem Tisch stand, kalt wurde. Genauso wenig störten sie die entsetzten Blicke der anderen Gäste, wenn sie meinen Dad laut als »verfickten Hurenbock« oder »elenden Wichser« bezeichnete.
»Der Tag, an dem du für deine Untaten bestraft wirst, wird mein Freudentag sein. Denn so wird es passieren, das schwöre ich dir. Jeder bekommt irgendwann, was er verdient«, hatte sie den Hörer angeschrien, bevor sie auflegte und das Handy wutentbrannt auf den Tisch warf.

Jeder bekommt irgendwann, was er verdient.
Während Doktor Tommens weiter auf mich einredete, hallten die Worte meiner Mutter in mir nach.
»Es besteht die Chance, dass der Tumor nicht bösartig ist und es sich mit einer OP, bei der das schlechte Gewebe entfernt wird, erledigt hat, Jesslyn«, beschwichtigte er mich, wahrscheinlich weil er bemerkt hatte, dass ich nicht ganz bei der Sache war.
»Natürlich könnte es auch andersherum sein, aber du bist noch so jung und dein Körper so wehrhaft, dass …« Anscheinend versuchte er, mir Hoffnung zu machen, doch ich war gedanklich schon wieder bei meiner Mutter im Diner.
Jeder bekommt, was er verdient.
Wie hätte es anders sein können? Es war so weit: Das war meine Quittung. Auch ich bekam nun endlich, was ich verdiente.

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