4.02. Highblood

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Filipinos sagen „Highblood", wenn sie verärgert oder wütend sind. Ich bin mir gerade nicht sicher, was mir mehr „Highblood" verschafft. Die arrogante Art des Anwaltes oder das von ihm Gesagte?

Das, was er gerade erzählt hat, wird nun langsam von mir verarbeitet und gewisse Unsicherheiten und Zweifel stellen sich ein: "Was hat der Typ da geredet und - verdammt nochmal! - was, wenn dort nur ein Fünkchen Wahrheit steckt?"

Human Trafficking (Menschenhandel), lebenslange Haft. „Ist das Human Trafficking, wenn ich mit Kindern im Hotel übernachte? Das ist doch zu deren Schutz gewesen", flüstere ich verbittert und schüttel den Kopf. "Ich will einfach nicht mit fünf Kindern nachts auf den Straßen der Philippinen unterwegs sein!"

Child Abuse (Kindesmissbrauch), 12 bis 15 Jahre Haft. Wieder flüstere ich: "Mein Gott, die haben doch nur kurz nackt auf den Betten getobt und Aboy ist nackt unter der Dusche gewesen. Das sind Kinder! Die wollten Spaß haben und sind einfach nur sehr glücklich gewesen. Außerdem kennen die solche riesigen, weichen Kingsizebetten nicht und ich habe doch auch dann „Schluss jetzt!" gerufen."

Die Eltern sollen mich anzeigen, sagt dieser Typ: "Spinnt der? Niemals!", will ich in die Welt brüllen, sage es aber kaum hörbar und ergänze: "Mich anzeigen? Niemals! Das würden die niemals tun! Das sind langjährige Freunde und sehr gute Bekannte von mir. Niemals zeigen die mich an und dazu besteht auch gar kein Grund! Gar Keiner!"

‚Unsinn, das ist das Geschäft mit der Angst', beende ich die düsteren Gedanken. Der Blutdruck sinkt und der Puls schlägt auch nicht mehr so schnell. Ich liege schlaff wie ein Teenager im billigen, abgewetzten Kunststoffstuhl. Der junge Begleitoffizier räuspert sich laut, ich springe auf, sodass der Stuhl lautstark nach hinten rutscht: „Entschuldigung!"

Der Officer wundert sich wohl ein wenig über mich, jedenfalls hat er ein erstauntes bis fragendes Gesicht: "Sir, ich bringe Sie zurück zu den Zellen."

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Der gut beleibte Wachmann und Michael grinsen breit und haben die obligatorischen Kippen im Mundwinkel, als ich den Zellenvorplatz betrete. Michael hat Spinnweben und Staub im Haar, ist verschwitzt und seine Klamotten sind verschmutzt. Er wirkt, als habe er gerade im Müll gewühlt. Die rostigen alten Barrelölfässer neben dem Zauntor quellen vom Müll über und neben den Tonnen stapeln sich Unmengen von Müll. Weil ich immer noch aufgeregt bin, ist mir das erst vollkommen entgangen. Ungläubig starre ich nun auf den Müllberg, der mir in Teilen bekannt vorkommt.

Ich ahne es stark, bin aber noch am Zweifeln.

Ein kurzer Blick in die Zelle bestätigt meine Ahnung und der Zellenvorplatz hört einen Freudenschrei: „Michael, bist Du verrückt? Du hast die Zelle geputzt! Das hätte aber nicht sein müssen. Danke, Michael!"

‚Wie blöd', denke ich, denn mir werden die Augen feucht. Schnell drehe ich mich zur Seite, huste gekünstelt und reibe kleine Tränen aus den Augenwinkeln.

"Entschuldigung, aber der Staub in der Luft", huste ich noch einmal in mein kleines Tuch.

‚Wie nett vom Michael!', stelle ich verschämt fest, freue mich dann aber: 'Ich habe einen Freund, einen echten Freund!' Am liebsten würde ich Michael, er ist der Vater von Phil und seine Ehefrau ist Vicente, das ist Aboys Cousine, umarmen und fest drücken. Dieser Usus ist aber überhaupt nicht üblich zwischen Männern auf den Philippinen, also lasse ich das.

Michael grinst breit und stolz, wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht und hält mir die Schachtel unter die Nase.

„Nein, nein danke, Michael!", stöhne ich gespielt, „ach, egal, gib schon her!"

Ich paffe mit dicken Backen und blase den blauen Rauch in die Luft. Gut, dass ich noch Mineralwasser habe. Damit öle ich meine rauen Stimmbänder: „Puh, Michael, ich sage Dir, da ist ein Attorney da gewesen. Der hat nur dummes Zeug geredet! Human Trafficking, Child Abuse, lebenslange Haft, verrückt! Total verrückt!"

Michael lacht und entgegnet: „Niemals, Tommy. Du bleibst nicht im Gefängnis! Du gehst nach Hause. Der Fall wird niedergelegt, denn alle sind für Dich. Keine Sorge, Tommy."

Der Wachmann nickt und zieht schnell mehrmals die Augenbrauen nach oben. Das Zeichen der Zustimmung.

Die Aussage des Anwaltes, die Eltern sollen mich anzeigen, verschweige ich. Wie Michael reagieren würde, weiß ich.

Wir genießen die ruhigen Minuten, die Zigaretten.

„Michael, willst Du duschen?" Der schaut überrascht und der Wachmann grinst nur.

Das Duschen dauert rund zehn Minuten. Ich laufe unterdessen im Kreis auf dem Zellenvorplatz.

Immer, wenn ich an den Zellentüren vorbeikomme, höre ich: „Hey, Joe!" oder „Joe, give me one Job!" ("Hallo, Joe! Joe gib mir einen Job!"). Ein breites Grinsen ist meine Antwort.

Mir will der Anwalt einfach nicht aus dem Kopf. Verzweifelt sinniere ich: ‚Vielleicht wollte der Anwalt mit seiner dreisten Ansprache etwas bei mir bewirken? Mich schocken und damit sozusagen aufwecken? Mich damit in die Realität holen? Quatsch', komme ich verärgert zum Schluss, ‚das ist das Geschäft mit der Angst. Denn das Geschäft mit der Angst, das ist ein gutes Geschäft!'

Michael duftet nach meiner Seife. Er zieht einen Kamm aus der hinteren Hosentasche und bindet sich gekonnt mit einem starken Gummi den Zopf am Hinterkopf. Michaels Gesicht ist schmal, vom Wetter gegerbt und er hat waagrechte Falten auf der Stirn. Seine Haut ist sonnengebräunt.

‚Wie alt mag er sein?', frage ich mich und schätze sein Alter auf 35 bis 40 Jahre. Er erinnert mich entfernt an Mick Jagger. Aber nein, so ein markantes Pferdegesicht wie der Jagger, hat Michael dann doch nicht.

Diesmal lehne ich dankend ab. Michael und der Wachmann ziehen genüsslich an der nächsten Marlboro: „Tommy, Sams Schwester, die Silvia, hat mir einen Text (SMS) gesendet. Wir sollen um 12 Uhr im BSWD sein. Die wollen mit uns reden."

„Na, das ist ja doch einmal eine gute Neuigkeit! Vielleicht könnt Ihr die Kinder abholen? Aber warum rückst Du damit erst jetzt raus, Michael?"

Der grinst nur, zuckt mit den Schultern und bläst den Rauch aus.

Ich krame die VISA-Karte hervor: „Michael, ich konnte gestern mit Marielou telefonieren. Sie würde gerne kommen. Vielleicht auch Jonathan? Kannst Du Geld holen?"

Michael erschrickt und zeigt mir panisch beide Handflächen: „Nein, nein, ich weiß nicht wie das geht!"

Verdutzt entgegne ich: „Oh, gut, wusste ich nicht. Dann warten wir auf Franco."

Mit Blick auf meine Armbanduhr frage ich Michael: „Kannst Du mir ein bisschen Schokolade oder Schokoladenkuchen besorgen oder Kekse oder Bonbons? Und zwei große Flaschen Wasser. Und eine Tageszeitung bitte. Ach, und eine Schachtel Zigaretten."

Michael bekommt 1000 Piso, rund 18 Euro: „Behalte den Rest."

Michael freut sich und nickt heftig.

„Kommt bitte nach dem BSWD hierher!", rufe ich Michael nach.

Beim Schließen knackt das Schloss und die Türe quietscht. Ich bin zurück in der trostlosen Zelle. Jetzt ohne Müllberg, aber dennoch in der gleichen prekären Situation.

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REISE INS VERDERBEN by NOKBEW™Where stories live. Discover now