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,,Du musst mir helfen", flehe ich ihn an.
,,Wieso sollte ich ausgerechnet dir helfen?", fragt er etwas herablassend und ohne mir einmal in die Augen zu blicken. ,,Glaubst du nicht, dass du genug Schaden angerichtet hast? Such dir doch jemand anderen, der deine Lügen glaubt!"
,,Bitte, du bist der Einzige, dem ich zutrauen würde, das alles zu verstehen und deswegen vielleicht mir glauben würde. Ich bin nicht mehr die Alte. Ich habe mich verändert. Wenn du mir auch nur ein Fünkchen glaubst, dann solltest du mir die Chance geben, alles zu erklären", versuche ich ihn zu überzeugen.

Er überlegt eine Weile. Dann entscheidet er sich doch für das Richtige. ,,Okay, ich gebe dir diese eine Chance. Komm mit und erzähl mir alles von Anfang an. Aber wenn du auch nur einmal versuchen solltest, mich anzuflunkern, werde ich..."

,,Schon verstanden", erwidere ich. Ich weiß, dass ich ihm vertrauen kann, deswegen beginne zu erzählen, ohne eine Kleinigkeit auszulassen:

,,Also, an einem ach so normalen Schultag fuhr ich wie üblich mit meinem Fahrrad über die schon so oft -zu oft- gesehenen Straßen, die ich nicht mehr richtig ansah, sondern einfach nur noch an mir vorbeiziehen ließ. Für gewöhnlich wünschte ich mir, dass mich diese Straßen wenigstens einmal überraschen würden. Doch das taten sie nicht. Das taten sie nie. In diesem kleinen Dorf änderte sich wohl nie etwas. Warum auch? Wer brauchte schon ein neues Haus, einen neuen Gehweg oder wenigstens mal eine Straßensperre? Wer wollte denn lieber überrascht werden, anstatt jeden Tag dieselben festgefahrenen Spuren zu fahren?"

Er warf mir einen Blick zu, der signalisierte, dass ich mich kürzer fassen sollte.

,,Jedenfalls war heute kein Morgen, an dem ich mir solche Fragen stellte, denn ich war viel zu müde dafür", fuhr ich fort. ,,Schließlich hatte ich nur ein paar Stunden geschlafen, weil es die zweite Woche nach den Ferien war, also war mein Schlafrhytmus immer noch komplett durcheinander.

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass meine Augen zugefallen waren, als das Auto hinter mir mich wachhupte. Ein Wunder, dass mich überhaupt mal jemand wahrnahm. Wäre es Nachmittag gewesen, wäre ich wahrscheinlich einfach so im Verkehrschaos untergegangen. So wie ich oft in Massen unterging. Aber ich glaube, dieses Gefühl kennst du auch.

Endlich kam ich im Nachbardorf an und wusste, dass es nun nicht mehr weit war. Ich wusste nicht, ob mich das erleichterte oder deprimierte. Am Ziel angekommen, stieg ich also mit gemischten Gefühlen von meinem Fahrrad. Ich zog meinen Helm aus und sofort standen meine Haare elektrisch ab. Ich hasste es, wenn das passierte. Schnell strich ich sie wieder glatt und legte das Fahrradschloss an.

Während ich mich der Schule näherte, beobachtete ich ein paar Sechst- oder Siebtklässlerinnen, die noch einmal ihr Aussehen in der letzten Glasscheibe vor dem Eingang checkten. Nicht, dass ich so ein Verhalten grundsätzlich verurteilen würde. Wahrscheinlich würde das jedes normale Mädchen machen. Nur war ich nicht normal.

Denn als ich selber kurz darauf in dieselbe Scheibe blickte, sah ich nichts. Besser gesagt, sah ich schon etwas, nämlich die jüngeren Mädchen und die Landschaft um sie herum. Doch mein Spiegelbild sah ich nicht. Und das lag nicht an dem Winkel oder so, sondern daran, dass... tja, wenn ich ehrlich war, wusste ich das selbst nicht.

Früher habe ich angenommen, dass man sich erst im Spiegel sieht, wenn man älter ist. Doch als ich merkte, dass gleichaltrige Kinder und sogar jüngere eines besaßen, fragte ich meine Mutter, wann ich endlich mein Spiegelbild sehen würde. Darauf stellte sie sich mit mir vor den Ganzkörperspiegel in ihrem Schlafzimmer.
,,Siehst du, da ist doch meine kleine Schönheit", meinte sie, als wäre das ganz selbstverständlich.
,,Stimmt, da bin ich ja", erwiderte ich. Es war das erste Mal, dass ich meine Mutter bewusst anlog. Denn ich konnte zwar sie sehen und sie scheinbar mich, doch mein Spiegelbild blieb mir weiterhin vorenthalten. Seitdem hinterfragte ich es nicht mehr und akzeptierte, dass ich anders war.

Also ging ich auf den Eingang der Schule zu, um mich nicht weiter von meinem nicht vorhandenen Spiegelbild ablenken zu lassen. Im Foyer angekommen, bemerkte ich, dass der kleine Zeiger der Uhr schon fast auf die 8 zeigte. Ich war spät dran, aber das bedeutete, dass meine Freundinnen schon da waren. Und es hieß auch, dass das Foyer sich mit so gut wie allen Schülern gefüllt hatte.

Ich ließ meinen Blick suchend umherschweifen, aber er blieb an dem Blickfänger der Schule hängen: Andrés und Clandestina. Und das waren sie nicht, weil sie so ein Traumpärchen waren, eher weil sie das genaue Gegenteil waren. Alle wussten, dass es nicht mehr lange halten würde, doch andererseits waren sie auch schon entgegen aller Vermutungen monatelang zusammen.

Eigentlich hätte mich das für Clandestina freuen sollen, denn wir waren einmal gute Freundinnen. Doch das war schon Jahre her. Außerdem war es schon ewig her, dass ich auf Andrés stand, redete ich mir immer wieder ein. Schließlich war er vergeben und scheinbar glücklich, deswegen hatte ich sowieso keine Chance beim ihm. Nicht, dass ich die jemals gehabt hätte.

"Hey, pass auf, wo du hingehst."
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich einen Jungen, der ein oder zwei Stufen über mir war, angerempelt hatte, während ich mit meinen Gedanken und vor allem meinen Augen woanders gewesen war. Ich errötete, doch in diesem Moment erlöste mich die Klingel. Ohne einen weiteren Blick auf meinen Mitschüler, von dem ich nicht einmal den Namen wusste, zu werfen, stieg ich die Treppe zu meinem Klassenzimmer hinauf.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 13, 2019 ⏰

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Shattered ReflectionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt