Definiere Freiheit

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Ein Schritt noch, dann musste er nie wieder auf dem taubengrauen Linoleumboden laufen. Hätte er vor zu heiraten, würde er diese Farbe von der Feier verbannen und damit die Träume von Corrie und ihren Brautjungfern zerstören.  Sie würde rufen: ,, Wenn du mir das verbietest, kannst du mich auch gleich eine Brücke herunterstoßen, sodass ich auf einem, aus dem Wasser ragenden Felsbrockenfalle und alle meine Knochen brechen. Danach kannst du den Rock meines Kleides auf deinen Kopf setzen, damit du meinen geschundenen - nicht mit Valentino-Mode bekleideten- Körper nicht ansehen musst. " Er würde grinsen, ihre gestikulierende Hand in seine nehmen und Corrie mit einem Kuss zum Verstummen bringen. 

Mit der linken Hand schob er seine Sonnenbrille runter auf die Nase während er ins Freie trat. Es war ein schwüler Julimittag und der gleißende Sonnenschein schmerzte ihn in den Augen. Die Kiste in seinem  Arm war leicht, er hört sein Handy bei jedem Schritt gegen die Kartonwand stoßen. Am Ende des gepflasterten Weges erreichte er ein metallenes Tor, welches beim Öffnen quietschte. Herr Flaumer grüßte ihn und wünschte ihm viel Glück. Der junge Mann quittierte das mit einem kaum merklichen Nicken. In seiner Box fand er seinen Geldbeutel und den Stadtplan mit den eingezeichneten Bushaltestellen. Corrie hatte jedes Bushaltestellensymbol auf der Karte mit einer kleinen Zeichnung versehen. Die von ihm am nächstgelegene Haltestelle namens Kahlostraße, wurde von einem Augenpaar mit Monobraue angeschaut. 

Der nächste Bus kam zum Glück nach wenigen Minuten. Beim Einfahren des Bus konnte er sein Spiegelbild in dem Glas der Bustür betrachten. Seine haselnussbraunen Augen sahen als Erstes den Ohrring an seinem linken Ohr aufblitzen, dann nahm er seine tiefen Augenringe, das markante Kinn und die schwarzen, sich bis zum Kinn kräuselnden Haare war. Sein Mitbewohner der letzten drei Jahre, dachte er sei Jamaikaner, wegen seiner Grundannahme, dass alle dunkelhaarigen Menschen aus Jamaiker kämen und Ska hören. Dass er ansonsten keinerlei Ähnlichkeiten mit einem Jamaikaner oder generell einer südländischen Person hatte, interessierte sein Bettnachbar, welcher sich selbst dem Namen (inklusive Tattoo) Hurricane gegeben hatte, nicht. 

,, Hi, Tobe!!! Du bist wieder in der City?!"  Er, welcher sein Blick über die vorbeigleitenden Erdbeerfelder mit den typischen gelb- roten Hütten davor schweifen lassen hatte und in seinen Gedanken bei Hurricane und dessen doch sehr zutreffenden Hagrid - Frisur war, schreckte hoch. Nach drei Sekunden verstand er, dass Tobe sein Name und er der Angesprochene war. Tobe blickte in das sonnengebräunte Gesicht von Jonah, der wie früher den leicht bitter- würzigen Geruch von Marihuana verströmte. Manche Leute änderten sich nicht und Jonah war einer von ihnen. Würde Tobe als alter Mann mit Jonah in ein Seniorenheim gehen, dann würde dieser die Beet bestimmt nicht zum Primel-Anpflanzen benutzen.  Jonahs Blick fiel auf den Karton, der auf Tobias Schoß stand und er verstand. ,, Was machste in den ersten Freiheitsmomenten jetzt so?" Er war so diskret ihn nicht auf die Geschehnisse von vor drei Jahren anzusprechen, aber bei dem Wort Freiheit krampfte sich Tobias' Magen zusammen. Tobe musste sich dreimal räuspern bevor er mit heiserer Stimme antwortete: ,, Hi, Jonah! Ich fahr jetzt erstmal zu meiner Oma." In Gedanken fügt er an:,, Zu meiner Oma, die mittlerweile begraben ist, ich aber weiß, dass du nur Antifa- Zeitschriften liest und den  Nachruf in einer von denen garantiert nicht gelesen hast und ich dir bestimmt nicht erzählen werde, was ich jetzt vorhabe. " Seine Oma würde ihn wahrscheinlich zwingen mit ihm den Rosenkranz zu beten und ihn gleich darauf mit Karottenkuchen vollstopfen und so tun, als sei er nicht mit 18 Jahren aus der Kirche ausgetreten. Jonah grinste und fing an von seinem Opa zu erzählen, welcher letztens Jonahs Vorrat entdeckt hatte und  ihn aufgefordert hatte, ihm einen Joint zu drehen anstatt ihn, wie Jonah erwartet hätte, zur Schnecke zu machen. ,, Das musst du dir mal geben, da sitzen wir zu zweit am Balkon und ich buff mit meinem 80- jährig- Oh, shit, da ich muss raus! Ciao, Tobe, ich ruf dich bald mal auf ein Bierchen an!". 


Tobias fuhr noch einige Stationen, bis er die in Stein geschlagenen Sternzeichensymbole, die im Kreis vor einer großen Grünanlage angeordnet waren, sah und stieg dann an der Station neben diesem Kunstwerk aus. Die Haltestelle  war auf seiner Karte von einer detaillierten Zeichnung von Leonardo di Caprio in Badehose übermalt worden. An den richtigen Namen der Bushaltestelle erinnerte er sich überhaupt nicht mehr, da Corrie und er schon so oft hier ausgestiegen, um an dem modernen Stein- Kunstwerk vorbei (,, Wenn ich mal auf die Idee komme, etwas dermaßen Hässliches zu fabrizieren, dann darfst du mich ebenfalls mit Hammer und Meisel bearbeiten bis ich genauso unförmig bin wie dieser Stier dort", Corrie würde auf das Sternzeichen für die April- und Maikinder zeigen und verächtlich die  Stirn runzeln) zu dem Schwimmbad zu gehen. Tobe umrundete das Schwimmbad und lief weiter in den angrenzenden Wal, in den sie nach dem Baden immer gegangen waren. Die Gedanken an Corrie, die er bisher verdrängt hatte, wurden intensiver. Er hörte ihre Stimme, wie sie die Bäume beschrieb und woran diese sie erinnern oder sah sie bei sich zu Hause gemeinsam mit seinem Vater Kartoffeln schälen. Dann sah er seinen Vater vor sich, hörte wie dieser sich bei Corrie über das Dasein als Single beklagte. Er sah Bilder von kleinen Jungs und Mädchen und er sah sich selber, verstehend wieso sein Vater Single war und wieso seine Mutter sie beide in Tobias dritten Lebensjahr verlassen hatte.  Er sah wieder Corrie mit ihrer dünnen, kleinen Gestalt. Er sah rot und grün und blau. Er sah Hände, Füße, Gürtel. Er sah wieder Kartoffeln, Zwillingsgesichter eingraviert in Steine, taubengraue Brautjungfernkleider. Er sah - braune, nasse Blätter und Moos  und fühlte wie sich etwas in seine Bauchdecke bohrte. Er war gestolpert, weil er den Werg nicht mehr gesehen hatte. Seine Sicht war immer verschwommener geworden, da er nicht gemerkt hatte wie ihm die Tränen über das Gesicht liefen, wie sehr er keuchte und die qualvollen Geräusche eines getretenen Tiers ausstieß. Er richtete sich langsam auf und merkte,  dass das Scharfkantige unter seinem Rumpf, der Karton mit seinen Habseligkeiten war. Tobe atmete tief ein und nach seinem hysterischen Anfall wurde er plötzlich tiefenentspannt. Nachdem er einige Zeit über seine Beine gelehnt am Boden gesessen war, stand er auf und lief weiter in Richtung seines Ziels. 

Nachdem er über das Betreten Verboten -Schild gestiegen war, konnte Tobe über den Wald und die Stadt bis zur JVA blicken. Würde er heute Abend dorthin zurückkehren, würde Hurricane womöglich als Begrüßung Bob Marley pfeifen und Tobe zwingen mit ihm ein Picknick auf einer Wolldecke am dreckigen Linoleumboden ihres Zimmers zu machen. Bestehen würde dieses Picknick  aus Schokoriegeln und Chips des einzigen Automaten der Anstalt, welcher sich im Besucherraum befindet, den Tobe nie von innen gesehen hatte. Unter ihm in 10 Meter Tiefe befand sich eine kleine Landstrasse, auf der fast nie ein Wagen fuhr. Er trat drei Schritte und stand in der Mitte der schmalen Brücke, auf der sie Nächte mit Bierflaschen in der Hand und bisschen von Jonahs Zeug verbracht hatten. Er erinnerte sich an Jonahs Worte und dachte lächelnd, dass jetzt endlich sein Freiheitsmoment beginnen konnte. Ein letzten Blick auf das Gefängnis der letzten 23 Jahre werfend, trat er über den Rand. 


                                                              Für Lynette & Teresa 


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⏰ Last updated: Jul 17, 2019 ⏰

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