50. Die Vision

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»Mir gefällt das nicht«, sagte Iris, als Zander die Fensterläden weit öffnete, sich hinauslehnte und prüfend in den Abgrund spähte

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»Mir gefällt das nicht«, sagte Iris, als Zander die Fensterläden weit öffnete, sich hinauslehnte und prüfend in den Abgrund spähte. »Bist du sicher, dass du das schaffst?«

»Ich sagte doch, du sollst mir vertrauen«, erwiderte Zander, knüpfte seine Weste auf und reichte sie Iris.

Iris nahm sie, faltete sie zusammen und legte sie sich über den Arm. Am Fenster war der Verwesungsgestank einigermaßen auszuhalten. Er erinnerte sie an die Gassen von Trandafir in den Tagen nach dem Königlichen Jagdfest und an die Müllgruben hinter den Schlachthäusern von Myr Paluda. Schlimmer als den Geruch fand sie jedoch das Gewusel der dunklen, haarigen Rattenleiber. Der Anblick der fleischigen, zartrosa Schwänze erfüllte sie mit einem so tiefen Ekel, dass sie beinahe ins Würgen geriet.

Nachdem er sich seiner Weste entledigt hatte, fasste Zander den morschen Fensterrahmen, was ein bedrohliches Knacken und Knarren zur Folge hatte. Davon unbeeindruckt, machte er Anstalten, sich ins Freie zu schwingen.

»Da wäre noch etwas«, sagte Iris.

Ihre Worte ließen Zander in der Bewegung innehalten. »Was?«

»Also... nur für den Fall, dass du dich irrst und das hier nicht überleben solltest...«, meinte Iris und bemühte sich, möglichst spöttisch zu klingen, auch wenn ihr insgeheim mehr als mulmig zumute war. Die Fassade des Forelli-Anwesens fiel unterhalb des Fensters steil ab und ging geradezu nahtlos in die Klippen des Fellmonte über. Wenn Zander auf seinem Weg nach unten abrutschte, würde er viele Meter in die Tiefe stürzen und auf den Felsen zerschellen. »Ich würde gerne eine Nachricht zu meiner Familie nach Trandafir schicken.«

»Das steht dir natürlich frei«, erwiderte Zander. »Wir reden später darüber, ja?«

In diesem Moment gelang es Iris nicht mehr, ihr Unwohlsein zu verbergen. »Beeil dich«, presste sie hervor. »Ich will nicht länger als nötig in diesem Loch warten müssen.«

Zander nickte und kletterte aus dem Fenster. Eine Hand in den glatten Stoff seiner Weste gekrallt, belauerte Iris jedes kleine Zucken in seinem Gesicht. Sein Mienenspiel drückte zunächst Konzentration und höchste Anspannung aus, wandelte sich dann jedoch rasch in eine jungenhafte Freude, die seine ohnehin schon leuchtend blauen Augen noch mehr zum Strahlen brachte. Die kleine Kuhle zwischen seinen Brauen, die für einen halbseidenen Ganoven und halbwilden Gusaren erstaunlich elegant geschwungen waren, verschwand so schnell wie sie entstanden war. Der frische Wind zerrte an seinem Hemd und an seinen Haaren. Dessen ungeachtet, klammerte er sich an den knirschenden Fenstersims und erprobte seinen Halt, indem er auf und ab wippte. Für einen kurzen Moment erlag Iris der Illusion, der Rahmen könnte unter seinem Gewicht nachgeben und zusammenbrechen, doch die Konstruktion hielt.

»Hör auf damit!«, fuhr sie ihn an. »Wenn du dich umbringen möchtest, dann spring doch einfach.«

Zander grinste. »Es ist in Ordnung, Iris«, beruhigte er sie. »Ich klettere nicht zum ersten Mal aus einem Fenster.«

Die Forelli-Dynastie: Göttliches ErbeWhere stories live. Discover now