Heimat

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Schnee. Es ist das Erste, was ich sehe, als ich aus dem Fenster in meinem alten Kinderzimmer schaue. Ich liege in meinem Bett und kuschle mich noch eine Weile unter die dicke Daunendecke, die so herrlich raschelt, wenn ich mich bewege. 

Darüber liegt die Patchworkdecke, die mir Grandmom zum Geburtstag gehäkelt hat und mit der ich viele Erinnerungen verbinde. Schöne und auch nicht so schöne, wenn ich an meinen ersten Liebeskummer denke. 

Ich war in der vierten Klasse und war zutiefst traurig, dass mein Schwarm lieber mit einem anderen Mädchen – dem blödesten auf der ganzen Schule – gehen wollte, als mit mir. Aber, wenn ich es heute so betrachte, war das gar kein Liebeskummer.

Es war viel mehr die Enttäuschung, die mich schmerzte. Dasselbe war mit Sam der Fall. Ich spürte eigentlich keine Schmerzen, so wie jetzt. Wenn ich an ihn gedacht habe, habe ich mich mehr gefragt, wie das alles mit uns schief laufen konnte. Verletzt oder enttäuscht war ich da auch nicht. Erst heute spüre ich, wie es ist wirklichen Herzschmerz zu haben. 

Seit meiner Ankunft gestern Abend fühlte ich mich innerlich völlig leer. Als hätte man mir meine sämtliche Kraft ausgesaugt und mich erschöpft und ausgelaugt wieder ausgespuckt. Ich habe mich in die Arme meiner Mutter gekuschelt und den Tränen freien Lauf gelassen. Habe mich von ihr trösten lassen, hörte ihren leisen Worten zu und klammerte mich mit aller Kraft, die mir noch geblieben ist, daran fest.

 Irgendwann hatte ich mich beruhigt und ging rauf in mein Zimmer. Seitdem bin ich da nicht mehr raus gegangen. Was schreckliche Schuldgefühle in mir hervorruft, zumal ich ihnen den Abend verdorben und die Geschenke in meiner Wohnung vergessen, die ich für sie gekauft habe. Aber nach dem Anruf habe ich nur das nötigste zusammen gepackt, habe mir einen Flug gebucht und bin zum Flughafen gefahren. 

So habe ich mir mein erstes Weihnachten weg von Zuhause nicht vorgestellt. Zumal ich jetzt wieder bei meinen Eltern bin und mich in meinem Zimmer verstecke, wie eine kleine Maus. Was ich nicht sollte und doch treibt mich nichts dazu, das Bett zu verlassen und nach unten zu gehen. Nichts, abgesehen von dem dringenden Bedürfnis mich zu erleichtern und meinen knurrenden Magen zu beruhigen. 

Und doch kann ich meine Beine nicht dazu bringen sich über den Bettrand zu schwingen und aufzustehen. Ich bleibe liegen und starre aus dem Fenster, schaue den Schneeflocken zu, wie sie auf die weiße Decke fallen und die Kids von den benachbarten Ranchen rauslocken. Bevor ich wieder in Trübsinn verfalle, klopft es an der Tür.

„Ja?" Meine Stimme hört sich seltsam krächzend an, weshalb ich mich räuspere. Die Tür wird geöffnet und das vertraute Gesicht meines Vaters taucht auf. Seine Augen erinnern mich an die von Desmond. Grün. Und doch ist es nicht dasselbe. Während Dads Augen dunkler, fast schon braun wirken, sehen Desmonds Augen wie ein satter Wald im Sommer aus. Leuchtend und doch ab und an dunkler, dort, wo die Bäume dichter stehen und die Strahlen der Sonne nicht ganz so gut durchkommen.

„Wie geht's dir?", reißt mich die tiefe Stimme meines Vaters aus den Gedanken. Blinzelnd setze ich mich auf und ziehe die Knie an.

„Ging mir schon mal besser", gestehe ich seufzend und mache ihm Platz. Mit großen Schritten ist er schnell bei mir und setzt sich neben mich. Die Matratze gibt nach und schon liegt sein Arm um meine Schulter und zieht mich näher zu sich heran.

„Mom hat Frühstück gemacht. Sie ist ganz aus dem Häuschen, das ihre Tochter wieder zurück ist, dass sie sich mächtig ins Zeug gelegt hat. Du weißt schon, Rührei mit Speck, Pfannkuchen und sogar French-Toast." Er schmunzelt während er mir das erzählt und auch mir zaubert es für einige Sekunden ein Lächeln ins Gesicht.

„Diese Reaktion habe ich mir gewünscht", murmelt er. Ich schaue zu ihm auf und erkenne die Liebe in seinen Augen und das Bedürfnis die dunkle Wolke wegzuscheuchen, die sich über mich gelegt hat. Was ihn wieder zu dem Helden werden lässt, den er für mich als Kind schon war.

Neighbors Date Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt