2. Kapitel - Die gleichen Sterne

53 9 2
                                    

Den Schweif auf meine Schulter gelegt führte Wisperwind mich an den Rand des Lagers, gegenüber des Abhangs, auf dem Wache gehalten wurde. Unsere Niederlassung befand sich in den Feldern am äußeren Ende des Territoriums, vor meiner Pflegemutter und mir erstreckte sich unbesiedeltes Brachland. Nach nur wenigen Schweiflängen flachte das Gras ab und ging in krage Erde über, auf der nur noch gelegentlich ein kleines, grünes Pflänzchen oder ein strauchiges Gestrüpp ums Überleben kämpfte. Obwohl einige Hügel die Sicht versperrten und der lehmige Boden die meisten Gerüche verschluckte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass da draußen irgendetwas lebte, sei es nun Beute, Streuner oder irgendetwas anderes. Unser Lager war hiermit somit absolut sicher.
„Also, Tränenfall..."
Wisperwind ließ sich auf einem moosigen Stück Gras nieder und lege den Schweif neben sich auf den Boden. Ich hockte mich ihr gegenüber hin, plusterte mich auf und schob meine Pfoten unter meine Brust. Über das Brachland wehte bereits der abendliche Wind und vom Lager her schallten die Stimmen meiner Clangefährten zu mir, wie es schien hatte Erdpfote sich gerade in einen heftigen Streit mit Dämmerkralle verwickelt, weil er noch kein Krieger war.
„Ja?", harkte ich nach ein paar Herzschlägen nach, als meine Pflegemutter im Schweigen verharrte. Wisperwind seufzte tief.
„Also, du weißt ja... dass Fleckenkralle und ich nicht deine leiblichen Eltern sind."
„Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben und mein Vater gilt als verschollen", ergänzte ich nickend, „so hast du es mir gesagt."
„Das stimmt soweit auch." Wisperwind sah mich nicht an, sie starrte an meinem Kopf vorbei in die Ferne, als sehe sie einem verlorenen Jungen hinterher. „Nur... was ich dir immer verheimlicht habe, und bitte lass mich erklären, warum... das alles... naja, das ist eben nicht... in diesem Clan, dem FeldClan, passiert."
„WAS?!" Noch vor wenigen Sekunden hatte ich mir selbst geschworen, Wisperwinds Bitte nachzukommen und sie ausreden zu lassen, aber in diesem Moment überkamen mich meine Gefühle und ich sprang auf. „Was soll das denn heißen, dass es nicht im FeldClan passiert ist?!" Ich atmete ein paar Mal schwer. „B-bin ich gar nicht aus diesem Clan? Bin ich e-eine Halbclan-Katze? Oder... bin ich ein Streuner? Ein Hauskätzchen? Sag doch was, Mutter!"
„Tränenfall..." Der Blick, den Wisperwind mir zuwarf, zerriss mein Herz in tausend Stücke. „... Tränenfall, meine Liebe... du weißt, du bist für Fleckenkralle und mich wie ein Junges und für Blattfeder wie eine echte Schwester und genau deswegen... würde ich mir nichts mehr wünschen, als dir auf all diese Fragen Antworten zu geben." Sie machte eine Kunstpause, in ihren Augen glänzte es glasig. „Aber... die traurige Wahrheit ist, dass ich... und auch niemand sonst hier... eine Ahnung hat, wo genau dein Ursprung liegt..."
„Wie bitte?!" Meine Kinnlade klappte herunter, mein Schweif, mit dem ich eben noch aufgeregt hin und her gepeitscht hatte, fiel schlaff auf den Boden. Ich konnte meinen Ohren nicht trauen.
„Lass es mich erklären." Wisperwind senkte den Kopf und ließ die Ohren hängen. „Setz dich hin... bitte."
Schweigend kam ich ihrer Bitte nach. Ich war zu überfordert, um meinem Körper andere Befehle zu geben, außerdem hätte ich eh nicht gewusst, was ich hätte tun sollen.
„Also", fing Wisperwind wieder an, „Das... das war so. Es war... in einer Nacht, ungefähr zwei Monde nachdem ich Blattfeder geboren hatte. Da kam ein Streuner... in unser Lager. Vom Brachland aus." Ihr Blick schweifte in die Ferne. „Normalerweise hätten wir ihn natürlich sofort verjagt, aber... er war nicht alleine. Er hatte dich dabei." Mir war nicht ganz klar, ob meine Pflegemutter an diesem Punkt eine Pause machte oder ob mir einfach kurz zu schwindelig wurde, um ihr noch weiter zuzuhören. Als mein Blick wieder klarer wurde und das Rauschen in meinen Ohren nachließ, vernahm ich allerdings, dass sie weitersprach. „Er sagte... dass dein Name Tränenjunges sei, und, dass deine Mutter tot sei. Er... er wurde angeblich geschickt, um nach Katzen zu suchen, die so heißen wie du, und bei denen sollte er dich abgeben." Sie schüttelte den Kopf langsam hin und her, wahrscheinlich ordnete sie ihre Gedanken. „Sein... Name war Eliot, daraus haben wir geschlossen, dass er die Wahrheit gesagt hat. Woher hätte er sonst wissen sollen, wie Clankatzen ihre Jungen benennen? Naja... wir haben natürlich gefragt. Bei Grenzpatrouillen und auf der großen Versammlung, ob vielleicht jemand ein Junges vermisst. Also... laut Schattenstern hat es dieser Eliot zuvor bei ihnen im LaubClan versucht, sie haben ihn aber weggeschickt, weil sie keine Königin hatten, die dich hätte versorgen können, und das wäre dringend nötig gewesen. Du warst... komplett geschwächt, noch auf Milch angewiesen, aber seit Tagen schon nicht mehr gesäugt. Du... warst absolut an deiner Toleranzgrenze, die nächste Nacht hättest du nicht mehr geschafft."
Schweigen. Meine Pfoten zitterten und auch Wisperwind schien sehr mitgenommen von dem, was sie mir gerade erzählt hatte. „E-es tut mir leid, Tränenfall", murmelte sie, „Aber das ist alles, was wir wissen."
Stille trat ein. Mein Blick hatte sich irgendwo am Horizont verloren, tausend Gedanken schossen durch meinen Kopf. Ich stammte also nicht aus dem FeldClan. Meine Vorfahren waren nicht über weite Wiesen und offene Flure gejagt, mit gut ausgeprägten Beinen, geboren um zu rennen, und der Fähigkeit, auf weiten Flächen einen guten Überblick zu haben, auch wenn man mal nicht alles sehen konnte. Wer wusste, was für Katzen es gewesen waren. Nach welchen Gesetzen sie gelebt hatten. Egal, wie oft ich das in Gedanken wiederholte, glauben konnte ich es einfach nicht.
„D-das heißt, ich bin eine Streunerin?", fragte ich vorsichtig nach, „Meine Vorfahren waren Streuner?"
„Nein!" Wisperwind schien von der Vehemenz ihrer eigenen Stimme erschrocken, denn ihre Schnurrhaare zuckten verlegen und als sie fortfuhr, war ihr Klang viel sanfter. „Nein, das muss es nicht heißen. Du... du hattest doch immer noch deinen Namen... Tränenjunges. Einen Namen, den man seinem Jungen nur dann gibt, wenn man nach den Gesetzen des SternenClans lebt. Es... bestünde deshalb auch die Chance, dass deine Eltern Clankatzen waren... Katzen, die irgendwo da draußen zu den gleichen Sternen aufblicken wie wir." Ihr Blick schweifte zurück ins Lager, wo Taubenstern gerade zielsicher zu Blattfeder herüber trottete.
„Wisperwind", ergriff ich in diesem Moment meine Chance, etwas zu sagen. Was genau mich zu dieser Frage bewegte, wusste ich nicht ganz – aber ich musste sie einfach stellen. „Wo ist dieser Eliot jetzt?"
„... so sicher bin ich mir da nicht", druckste meine Pflegemutter nach einer kurzen Pause, „Also... eigentlich ist es auch besser, wenn du es nicht weißt, aber... soweit ich weiß, hat er sich zu einem Zweibeinerort jenseits des Brachlandes aufgemacht, um sich dort niederzulassen... aber das weißt du nicht von mir." Sie brach ab, ihr Blick wanderte wieder zu Boden.
„... das... belassen wir es dabei", meinte sie schließlich nach einer kurzen Pause, „ich... würde dich bitten, vielleicht erst einmal nur mit Fleckenkralle und Blattfeder darüber zu reden." Ein kurzer Rundblick. „Ich sollte... also... die meisten Katzen hier im Clan wären bestimmt nicht allzu erfreut darüber, dass ich dir die Wahrheit erzählt habe... wie auch immer." Sie erhob sich auf die Pfoten. „Ich fand aber, dass du einfach wissen solltest, woher du stammst... mach dir am besten keine weiteren Gedanken darüber. Du wurdest hier aufgezogen, hier ausgebildet und als vollwertige Kriegerin akzeptiert. Es sollte dein Ziel sein, auch so zu leben."
Sie nickte mir zu, dann drehte sie sich langsam herum und trottete einfach davon. Nur Sekunden später erfuhr ich auch, warum.
„Hey, Tränenfall", schallte nämlich in diesem Moment die Stimme von Taubenstern an mein Ohr, keinen Herzschlag danach stand die Anführerin auch schon neben mir und lächelte mich an.
„Es ist an der Zeit", verkündete sie, „Die Sonne geht unter, ihr treten nun eure Nachtwache an."

Irgendwie hatte ich es schon immer geliebt, Wache auf dem Hügel zu halten. Auf einer erhöhten Position zu sitzen, den kalten Wind im Fell zu spüren und die komplette Umgebung im Blick zu haben – es fühlte sich einfach richtig an. Manchmal sogar richtiger, als durch hochgewachsene Wiesen zu stürmen und sich alleine auf seine Instinkte, sein Gehör und seinen Geruchssinn zu verlassen.
Ich hatte mir nie sonderlich viele Gedanken darüber gemacht, warum mein Geschmack diesbezüglich so stark vom restlichen Clan abwich, aber in dieser Nacht dachte ich zum ersten Mal darüber nach, ob es vielleicht nicht nur Geschmack war. Ob es mir vielleicht einfach in den Genen lag. Ob meine Vorfahren nun Clankatzen waren, ich glaubte irgendwie nicht daran, oder Streuner – vielleicht hatten sie in einer Umgebung gelebt, in der es wichtig war, hoch zu sitzen und den Himmel im Blick zu haben.
Ich spürte, wie Blattfeder mich ansah, als ich langsam den Kopf schüttelte. Sie musste wissen, worüber Wisperwind mit mir gesprochen hatte, denn ich spürte, dass es in ihr brannte. Sie wollte mit mir reden, unbedingt, und ich verspürte ebenso das Verlangen, mich mit ihr auszutauschen, ihr die vielen Fragen zu stellen, die mir wie Feuer auf der Seele brannten und wie Steine an meinem Körper zerrten, die ich selbst nicht in Worte fassen konnte und die vermutlich nicht einmal der SternenClan zu beantworten wusste. Die Verwirrung, die in meinem Inneren wütete, konnte nicht mit dem beschrieben werden, was ich bisher in meinem doch recht kurzen Leben kennen gelernt hatte.
Mit einem energischen Schütteln versuchte ich, zumindest Teile der Konfusion zu verdrängen. Im Prinzip, auch wenn mich dieses Eingeständnis wütend machte, hatte Wisperwind Recht. Ich war eine Kriegerin des FeldClans, hier aufgezogen, ausgebildet und aufgenommen. Ich hatte bei meiner Kriegerzeremonie meine ewige Treue geschworen, nun war es meine Pflicht, ihm mit all meinen Kräften zu dienen. Was kümmerte es mich, wer meine Vorfahren waren? Meine Familie war hier, hier in diesem Clan. Sie hatten mich akzeptiert, wie ich war, und niemals anders behandelt. Weder besser noch schlechter. Wieso sollte ich jemanden dafür verurteilen, mir nicht das Gefühl gegeben zu haben, hier nicht hinein zu gehören? Hätte ich die Wahrheit früher erfahren, dann hätte ich mich vermutlich sogar selbst ausgeschlossen.
Als ich den Kopf senkte, spürte ich eine sanfte Berührung an der Flanke. Durch einen schnellen Seitenblick erkannte ich, dass Blattfeder an mich heran getreten war und sich sanft an meine Seite schmiegte. Ihr Schweif ringelte sich um mich und als sie zärtlich über mein Ohr leckte, verschwamm mein Sichtfeld für einen Moment. Dankbar schmiegte ich mich an meine Schwester, drückte meine Schnauze in ihr weiches Fell und sog ihren vertrauten Duft ein.
Mochte sein, dass uns das Gesetz der Krieger verbat, in dieser Nacht zu sprechen, aber die besten Familien funktionierten eh ohne Worte.
Blattfeder war meine Schwester, Wisperwind meine Mutter und Fleckenkralle mein Vater. Und das würden sie auch immer bleiben.

Die Sonne war schon ein gutes Stück über den Horizont gestiegen, als sich im Lager erstmalig etwas regte. Die Wurzeln, die am erdigen Eingang des Kriegerbaus wuchsen, wackelten kurz, dann schlüpfte eine dunkelgrau getigerte Kätzin hervor, Regenherz, die zweite Anführerin, gähnte und streckte die Müdigkeit aus ihren Gliedern. Hinter ihr folgte ihr Gefährte Mohnkralle, ebenfalls herzhaft gähnend. Die beiden unterhielten sich kurz gedämpft, dann machte sich Mohnkralle auf den Weg zu dem, was noch vom Frischbeutehaufen übrig war, während Regenherz damit begann, den Erdhang hinaufzukraxeln und strahlend auf Blattfeder und mich zukam.
„Guten Morgen, ihr beiden Kriegerinnen", schnurrte sie, „Ihr habt eure Wache beendet, ihr könnt jetzt schlafen gehen. Ruht euch aus, wenn ihr zurück kommt, ist bestimmt schon eine Jagdpatrouille mit frischer Beute zurück."
Sie lächelte Blattfeder an, doch als ihr Blick auf mich fiel, auf meine glasigen Augen, verdunkelte sich Regenherz Gesichtsausdruck. Langsam sanken ihre Ohren und ihr Schweif nach unten, zögerlich machte sie einen Schritt auf mich zu.
„Tränenfall...", murmelte sie schockiert, ehe ein Seufzen ihre Kehler verließ.
„Du weißt es, oder?", flüsterte sie mitfühlend, „Wisperwind hat es dir erzählt, stimmt das?"
In diesem Moment kam es über mich. Ein Schluchzen entwich mir, meine Beine begannen zu zittern und alles, was ich noch hinbekam, war ein Nicken.

Warrior Cats - Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt