1. Nachts

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Oft hatte ich als Kind die Wochenenden bei meinen Großeltern verbracht, die nur zwanzig Minuten von uns entfernt gewohnt hatten. Sie lebten in einer großräumigen Wohnung mit 3,5 Zimmern, die sich einem Altbau befand. Die Treppen waren hoch, und obwohl sich die Wohnung im dritten Stock befand, hatte man immer das Gefühl, im vierten zu sein. Das Treppenhaus bestand aus Stein, das Geländer war alt und aus Holz und bereits dermaßen morsch, dass es sich bei der leichtesten Bewegung hin und her bewegte.
Als ich noch sehr klein war, behauptete mein Großvater, dass ich mit den hiesigen Geistern gesprochen hätte. Falls dies der Wahrheit entspricht, erinnere ich mich schon sehr lange nicht mehr daran.
An andere Dinge allerdings umso mehr.
Als Kind hatte ich immer Angst in der Dunkelheit. Schon damals hatte ich eine blühende Fantasie gehabt und fürchtete mich nicht nur vor dem Monster unter dem Bett, sondern auch vor bleichen Gesichtern, die am Fenster erscheinen, Türen, die sich von selbst öffnen und Leichen, die beim Umdrehen plötzlich neben mir im Bett liegen und mich aus leeren Augenhöhlen anstarren. Darum musste immer ein Nachtlicht brennen und die Türe weit offen stehen.
Mein Problem, von klein auf war, dass meine Vorstellungskraft abends immer auf Hochtouren läuft. Dadurch fällt es mir auch schwer, gut einzuschlafen. Anders als meine Mutter, mit der ich mir das Schlafzimmer teilte. Nachdem wir uns abends zum Schlafen hinlegten war sie bereits nach wenigen Minuten ins Reich der Träume abgedriftet, was ich an ihrem leisen Schnarchen erkannte. Auch meine Großeltern und der Lebensgefährte meiner Mutter gingen bald nach und schlafen und kurz darauf war es, bis auf die Schlafgeräusche von vier Personen, sehr still in der Wohnung. Während das Schlafzimmer meiner Großeltern nahe der Wohnungstüre am Anfang des Flurs war, befand sich das Zimmer, indem meine Mutter und ich übernachteten genau zwischen meinen Großeltern und dem Wohnzimmer, indem der Lebensgefährte meiner Mutter schlief. Von uns und von dem Wohnzimmer standen die Türen offen und das Nachtlicht warf einen grünen Schein von der Küche aus, die sich am anderen Ende des Flurs befand, an die Wand. Ich lag im Doppelbett der Tür am nächsten und hatte mich auf die Seite gerollt, den Blick hatte ich auf den Flur gerichtet.
Während meine Gedanken kreisten, gab es einen kurzen Moment, indem ich glaubte, etwas zu sehen.
Der Schatten eines Kindes huschte über die Wand.
Ich blinzelte. Da war nichts.
Offenbar ging meine Fantasie wieder mit mir durch.
Aber ich wagte nicht, mich umzudrehen. Oder die Augen zu schließen.
Es dauerte lange, bevor ich einschlief. Doch bevor ich in meine Träumen sank, konnte ich die dumpfen Geräusche von schweren Schritten hören, die im Raum über uns auf und ab liefen.

***

Am nächsten Tag dachte ich kaum mehr an den Schatten oder an die Schritte.
Bis der Lebensgefährte meiner Mutter selbst darauf zu sprechen kam. Denn er behauptete, der Lärm der Nachbarn über uns, hätten ihn nachts geweckt.
Ich erinnere mich, wie mein Großvater geschmunzelt und gesagt hatte, dass über uns niemand wohnte. Und tatsächlich befand sich über der Wohnung meiner Großeltern nicht etwa eine weitere Wohnung, sondern ein modriger alter Dachboden mit Boden und Wänden aus Beton. Es gab nur ein Fenster zu oben, aus dem wir immer zu Silvester das Feuerwerk in der Nacht beobachteten.
Skeptisch hatte der Lebensgefährte meiner Mutter einen Blick reinwerfen wollen. Er war irritiert, als er merkte, dass sich tatsächlich keine Wohnung, sondern ein leerer Raum dort oben befand, indem meine Großmutter auf Leinen die Wäsche zum Trocknen aufhängte. Und da meine Großeltern den einzigen Schlüssel für den Dachboden besaßen, hätte auch niemand sonst dort hingelangen können.

***

Am nächsten Abend blieben wir alle etwas länger wach und schauten uns einen Film an. Als wir schließlich alle schlafen gingen, war es nahe Mitternacht.
Wieder schlief meine Mutter schnell ein und durch die Wand konnte ich das Schnarchen meiner Großeltern vernehmen. Nur aus dem Wohnzimmer kamen Geräusche, als würde sich ein schwerer Körper hin und her wälzen.
Ich war nicht die einzige, die an diesem Abend nicht einschlafen konnte.
Es schien eine halbe Ewigkeit zu vergehen, während ich auf die Wand starrte, abwartend, ob ich wieder den vorbei huschenden Schatten sehen würde. Aber ich sah ihn nicht.
Ich gebe zu, ein Teil von mir - der abenteuerliche Teil, der Spukgeschichten und Geister liebt - war enttäuscht.
Gegen drei Uhr morgens begannen wieder die Schritte über uns auf und ab zu gehen.
Ein Murmeln aus dem Wohnzimmer verriet mir, dass ich nicht die einzige war, die sie hörte.
Die Schritte Klängen dumpf und schwer und schienen den Dachboden von einer Seite zur anderen abzuschreiten.
Dann war etwas zu hören, was ich nachts zuvor nicht mitbekommen hatte.
Es hörte sich an, als würde jemand etwas sehr Großes, sehr Schweres über den Boden ziehen.
Wie eine riesige Truhe zum Beispiel ... oder einen Sarg.
Es polterte über unseren Köpfen.
Nein, das habe ich mir nicht eingebildet.
Im Wohnzimmer wurde geflucht, dann würde das Licht eingeschaltet. Ich setzte mich im Bett auf und im nächsten Moment war der Lebensgefährte meiner Mutter bei uns im Zimmer und knipste die Deckenlampe an.
Die plötzliche Helligkeit weckte meine Mutter und sie schreckte hoch.
Das Gesicht ihres Freundes war grimmig gewesen. „Jemand ist auf dem Dachboden."
Wieder hörten wir das schleifende Geräusch und die Schritte. Meine Mutter war kreidebleich, als wir zu dritt auf die Geräusche über uns horchten.
Fast gleichzeitig sprangen wir auf und eilten in den Flur und machten auch dort das Licht an.
„Ich geh da jetzt hoch. Weißt du, wo der Schlüssel ist."
Dass meiner Mutter Idee nicht gefiel, sah man ihr deutlich am Gesicht an, doch sie nickte. „Am Bund an der Tür."
Wir sahen zur Wohnungstür, die jede Nacht von innen abgeschlossen wurde. Der Schlüssel und hing an einem Haken direkt daneben. Der Freund meiner Mutter nahm ihn an sich. „Welcher ist es."
Meine Mutter zeigte ihm den Schlüssel. Währenddessen waren meine Großeltern von dem Trubel, den wir veranstalteten, geweckt worden. Ihre Schlafzimmertüre ging auf und mein Großvater sah uns Stirnrunzelns an. „Was macht ihr alle hier?"
„Ich gehe jetzt auf den Dachboden, um zu sehen, wer sich dort rumtreibt. Irgendwer ist eingebrochen. Hör selbst."
Das Gesicht meines Großvaters wirkte so stoisch, wie sonst selten, als er sagt: „Das sind nur Ratten. Du brauchst nicht hoch gehen."
Meine Großmutter ihm hatte die Lippen fest zusammengepresst.
Die Schritte über uns waren verklungen, aber der Lebensgefährte meiner Mutter schüttelte den Kopf. „Das sind ganz sicher keine Ratten." Damit schloss er die Türe auf und knipste das Licht zum Treppenhaus an. Er ging die ersten Stufen hoch und drehte den Kopf, um die Türe eine Etage über uns anzusehen. Dann ging er entschlossenen Schrittes hoch, bis er über uns und außer Sicht war.
Ich hatte als Kind immer Angst vor der Dunkelheit gehabt und davor, was sich darin versteckte. Aber es gab etwas, das stärker war, als diese Angst.
Meine Neugier. Und eine Abenteuerlust, die mich schon manches Mal an meine Entscheidungen zweifeln ließ.
In diesem Moment gewann die Neugier in mir die Überhand und ehe mich irgendjemand zurückhalten konnte, war ich die Treppe hoch gelaufen und folgte dem Freund meiner Mutter durch die Tür zum Dachboden.
Er bemerkte mich und wirkte alles andere als glücklich. „Geh wieder runter", zischte er mir zu.
Aber ich dachte nicht daran. Ich überholte ihn und ließ die Hand an der Wand nach dem Lichtschalter tasten. Ich fand ihn und knipste ihn an.
Es blieb dunkel.
Ich drückte und drückte, aber das Licht blieb aus. Hinter mir hörte ich Fluchen und dann würde ich am Arm gepackt und zurück gezogen.
Ich erschreck, erkannte aber direkt, dass es nur der Freund meiner Mutter war. Er stellte sich vor mich, den Rücken zu mir, Gesicht in den Raum gewandt. „Wer ist da?"
Nichts. Nur Stille.
„Ich weiß, dass du noch hier bist! Die Türe war abgeschlossen. Zeig dich."
Da. Wieder diese Schritte.
Plötzlich merkte ich, wie kalt es hier oben war. Der Raum war komplett aus Stein und Beton, ohne Isolation, und ich war nur in meiner Pyjamahose, Socken und T-Shirt gekleidet. Die Kälte der Nacht war hier stärker zu spüren, als in unserer Wohnung darunter.
„Komm und zeig dich!"
Die Schritte waren wieder verstummt, aber mir war, als hörte ich jemanden schwer atmen. Ich beugte mich vor und versuchte, in der Finsternis etwas zu erkennen. Mondlicht schien durch das einzelne Fenster an der gegenüberliegenden Wand und leuchtete auf die aufgegangenen Laken meiner Großmutter.
Der Freund meiner Mutter packte mich wieder am Arm und zog mich nahe an sich, während er langsam Richtung Fenster ging - in die Richtung, aus der das Atmen kam.
„Ich kann dich sehen, du Bastard. Komm schon raus!"
Da ertönten Schritte hinter uns. Erschrocken führen wir herum, doch es war nur meine Mutter, die die große Taschenlampe meines Großvaters in der Hand hielt.
Ihr Lebensgefährte nahm ihr die Taschenlampe ab und ließ den Strahl von einer Ecke zur anderen gleiten.
Dicht neben dem Fenster bewegte sich eines der Hemden. Die Ursache hätte auch nur ein Luftzug sein können, aber das glaubte in dem Moment keiner von uns.
Wir näherten uns zu dritt ganz langsam der Stelle, wo das Hemd hing.
Da war nichts zu sehen, kein Schatten, kein Schemen, nichts.
Wir waren kurz davor, als meine Mutter mich zurückhielt und ihr Freund den letzten halben Meter alleine überwand. Die Taschenlampe erleuchtete das Hemd, welches noch immer in der Brise schwang - ansonsten bewegte sich nichts.
Der Atem war jetzt lauter, zu laut in der Dunkelheit.
Der Freund meiner Mutter hob die Hand, um das Hemd zur Seite zu schieben.
Plötzlich hob sich der Stoff von selbst und ihm entgegen. Er schlug dagegen, traf aber nur Luft. Die Taschenlampe ging aus.
Im nächsten Moment knallte die Türe zum Dachboden zu.
„Raus!"
Wir rannten alle, so schnell wie möglich Richtung Türe. Meine Mutter riss sie auf und zerrte mich hinaus.
Das Treppenhaus war leer, still.
Die Lichter brannten, denn meine Großeltern warteten auf dem Treppenabsatz vor der Wohnungstür auf uns. Als wir die Stufen hinunter liefen, sahen sie uns mit ausdruckslosen Gesichtern an.
„Und? Habt ihr jemanden gefunden?", fragte mein Großvater mit seltsam emotionsloser Stimme.
Wir hatten alle nicht so recht die richtigen Worte, in diesem Moment. Wahrscheinlich waren unsere Gesichter allesamt kreidebleich. Ich erinnere mich, wie kalt mir in dem Moment war. Angst und Aufregung ließen meinen ganzen Körper zittern.
Schließlich hatte der Freund meiner Mutter gesagt, dass wir nichts gesehen hatten.
Mein Großvater sah ihn nur an. „Ich sagte ja. Ratten."

***

Keiner ließ je wieder Zweifel erkennen, an den Aussagen meines Großvaters. Und wann immer wir wieder bei meinen Großeltern übernachteten, könnten wir wieder die Schritte nachts hören. Immer nur nachts.

Wir redeten nie wieder über die Ratten.

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⏰ Last updated: Oct 29, 2019 ⏰

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