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Als ich am nächsten Morgen in die Klasse kam, war Jonas Platz leer - wahrscheinlich krank, so wie er es mir gestern geschrieben hatte.
"Guten Morgen", Frau Rose kam in die Klasse und wir stellten uns hin.
"Ich überprüfe die Anwesenheit - wen ich aufrufe, darf sich setzen - Meyer -Claß, Bauer - Frederike-" so ging es weiter, bis wir bei meinem Namen angelangt waren und ich mich endlich setzen konnte. 
Die Klassentür öffnete sich und Jonas huschte mit gesenktem Kopf rein.
"Entschuldigung", murmelte er.
"Jonas - warte mal bitte. Du weißt dass -", sie stoppte und lief zu ihm.
"Was ist passiert?", sie versuchte Jonas im Gesicht abzutasten, doch der wich aus.
"Ich... hab den Bürgersteig übersehen, es war zu dunkel", murmelte er und setzte sich auf den Platz. "Jonas - soll ich nicht doch -" "Danke, nein", er setzte sich auf seinen Platz und ich sah ihn erschrocken an: seine Nase blutete und an den Wangenknochen wurde die Haut blau. Das konnte nicht vom Radfahren kommen.
"Was hast du gemacht?!", flüsterte ich. Jonas hatte die Stirn auf der Hand aufgestützt und raufte sich die Haare.
"Hab den Kantstein übersehen", flüsterte er.
"Ruhe dahinten", ertönte Frau Rose.

Erst in der Pause hatte ich wieder Gelegenheit mit dem blonden 17 jährigen zu reden.
Zuerst schwiegen wir uns an, bis ich schließlich vorsichtig anfing: "Und du bist sicher, dass alles okay ist?", wir saßen auf einer Tischtennisplatte, weil es der Platz mit der meisten Herbstsonne an diesem kalten Herbsttag war.
"Ist es unmoralisch, wenn ich jetzt mein Pausenbrot esse, während du daneben sitzt?", er steckte sich und fummelte ein zerknittertes Brötchen aus der Jackentasche.
"Mach doch - so krank bin ich nicht mehr. Wenn mich etwas stört, werde ich es dir schon mitteilen", stöhnte ich, genervt vom geschickten Themenwechsel.
"Okay", stirnrunzelnd nahm er einen großen bissen von seinem Brötchen.
"Mh, darf isch disch wasch fragn?", nuschelte er zwischen zwei Bissen.
"Wegen der Krankheit? Jaaaa", sagte ich gedehnt und schaute dennoch weg, weil mich der Brötchengestank (irgendwas mit Zwiebeln?) dann doch zu sehr ablenkte.
"Wieso?"
"Wieso was?", er hatte aufgehört zu kauen und schaute mir nun fest in die Augen.
"Wieso hast du aufgehört  essen?", fragte er.
"Also erstens habe ich das nicht - ich hatte nur Anzeichen, dass es sich zu einer Sucht entwickeln kann - Essstörung ist nicht gleich Essstörung", fauchte ich.
"Zweitens - wir kennen uns kaum, sicherlich erzähle ich dir meine ganze Leidensgeschichte", auch wenn es verrückt klingen mag: Er war mir schon jetzt komisch vertraut, aber trotzdem - er würdees eh nicht verstehen. Wir hatten gestern Abend noch telefoniert und Witze über Carlos gemacht - ich mochte ihn.
"Du wurdest also schon verletzt", stellte er fest.
"Sag mal -" 
"schon okay, ich sag nichts mehr", sagte er schulterzuckend.

In der Nächsten Stunde mussten wir Gruppen bilden.
Es war Ethik und unser Thema war ironischer Weise Freundschaft.
Noch immer hoffte ich, dass Dana sich umdrehen und mich zu ihr bitten würde.
"Zu wem gehen wir?", raunte Jonas mir neben mir zu.
"Dana?", Jonas sah mich erstaunt an.
"Zu der blöden S-" 
"Sie ist meine beste Freundin, Idiot", fauchte ich.
Jonas hustete ironisch.
"Melina und ehh.. du", Lissy hatte sich umgedreht und Jonas und mich angeschaut.
"Dana und ich sind zu zweit - ihr müsst zu uns",  sagte sie von oben herab.
Siegessicher grinste ich Jonas an und er trottete hinter mir her.
"Ich mache das Plakat und Dana arbeitet den ersten Absatz aus dem Text über Emotionen durch. Melina... könntest du den Absatz über Fake Friends machen?", mir war es egal - ich sah in dem Fach sowieso nichts sinnvolles. Man redet die ganze Zeit über Gefühle und Wirkungen - wozu? Wenn man jetzt nicht das Feingefühl welches dieses Fach lehren soll hat, wird man es eh nie haben. 
"Damit kennt sie sich aus", wie vom Blitz getroffen zuckte ich zusammen und sah mich um, von wem der Kommentar kam.
Dana sah mich wütend an.
"Was?", verwirrt starrte ich sie an.
"Du hast mich damals hängen lassen - aufeinmal warst du weg, hast dich nicht gemeldet, NICHTS", DESWEGEN war sie sauer? Das konnte sie nicht ernst meinen.
"Du weißt doch, wo ich war", flüsterte ich erstickt.
"Trotzdem", sie funkelte mich an.
"Dana, ich war in einer scheiß Klinik - da hat man keine Handys, man", schrie ich.
In der Klasse wurde es still - alle starrten mich an.
Ich schlug mir die Hände vor den Mund und Dana wannte sich ab.
"Weitermachen", rief Herr Mayer.
Jonas sah mich mitfühlend an.
Ich musste raus. Raus aus diesem Raum, weg von Dana.
"Mir ist schlecht", flüsterte ich, als ich am Lehrer vorbei lief.
Ich lies mich an einer Wand heruntersinken und weinte.
Ich weinte aus Verzweiflung, aus Angst, aus Frust.
Wieso? Wie konnte ein Mensch so herzlos sein wie sie?
Ich saß bis zur Pause dort, bis mein Lehrer zu mir kam und mir ein Gespräch anbot, welches ich ablehnte.

Als die Schule endlich rum war, lief ich als erste raus.
Auf Jonas rufe reagierte ich nicht - es war mir egal.
Zuhause war niemand, perfekt.
Ich holte mein Tagebuch heraus- essen wollte ich eh nicht.
Ich berichtete was passiert war und schloss das Buch wieder.
Ich begann an mir zu zweifeln - hatte Dana Recht gehabt? Hätte ich mich um den Kontakt bemühen müssen? 
Zitternd schaute ich auf die Uhr - 16.00.
Es war ein langer Schultag gewesen, aber bis es richtig dunkel war, hatte ich noch Zeit.
Schnell schnappte ich mir meine Sportsachen und meinen Hund und ging joggen.
Ich fühlte mich frei und ich hatte es lange nicht mehr getan.
In der Klinik hatte man gesagt, dass das Leben nach der Klinik nicht mehr das gleiche sein würde, aber dass es so anders war und es sich quasi noch mehr um die Krankheit drehte als vorher, hätte ich nie gedacht.

Als ich an einem der Häuser direkt an der Straße vorbei lief, hörte ich schreie.


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⏰ Last updated: Dec 30, 2019 ⏰

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