Kapitel 3

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Jetzt durften sie keine Zeit mehr verlieren. Jede Sekunde konnte über Leben und Tod entscheiden. Gras konnte ihren Augen nicht trauen. War das wirklich ihre Lichtung? Ihr Zuhause? Ehe sie darüber nachdenken konnte, zog sie an dem Nackenfell ihrer Schwester. Sie mussten weg; und zwar so schnell wie möglich! >> Herbft, fteh auf! Wir müffen fo fnell wie möglif hier rauf! << Nuschelte Gras durch Herbsts Fell hindurch. Doch das wäre gar nicht nötig gewesen. Herbst hatte ihre angstgeweiteten Augen aufgerissen und starrte entsetzt durch den Eingang. Ohne ein Wort zu verlieren raste sie hinaus und Gras verlor sie aus den Augen. Was hatte Herbst sich dabei gedacht? >> Herbst! Herbst! Wo steckst du! << Gras rief ihre Schwester durch den Lärm hindurch, doch da hätte sie auch versuchen können sich einen Dachs als Freund zu machen. Sie schaute noch einmal mit einem traurigen Blick in ihren Bau, ehe auch sie sich umdrehte und davonraste. Ihr Herz schlug heftig gegen ihre Brust und fühlte sich an, als ob es gleich herausspringen würde und das Blut rauschte in ihren Ohren, als sie den riesigen Monstern auswich. Sie brüllten und fauchten, doch Gras achtete nicht darauf. Sie musste so schnell wie möglich auf die andere Seite der Lichtung und ihre Schwester finden. Ihre Pfoten rasten über die aufgelockerte Erde und sie wäre beinahe gestolpert, hätte sie sich nicht noch gerade eben fangen können. Staub wirbelte auf, als eines der Monster Erde in sein Maul nahm. Gras musste blinzeln, um noch etwas sehen zu können und keinen Staub in die Augen zu bekommen. Doch sie bekam dennoch tränende Augen. Voller Angst versuchte sie noch schneller zu laufen, als direkt neben ihr ein Baum auf den Boden krachte. Ihre Pfoten schmerzten und ihre Lunge tat weg, durch den aufgewirbelten Staub und ihren Lauf durch das Monster-Labyrinth. Gras konnte kaum noch etwas sehen, sie wusste nicht, wo sie lang musste und das Ende kam auch noch nicht in ihr Blickfeld. Komme ich hier überhaupt noch raus? Oder habe ich mich heillos verlaufen und frisst mich gleich eines dieser Monster mit seinem riesigen Maul? Doch da tat sich eine Lücke zwischen zwei gelben Riesen auf und Gras konnte den unberührten Waldrand ausmachen. Ja! Gleich habe ich es geschafft! Nur noch ein kleines Stückchen! Sie treib ihre Pfoten an, noch schneller zu laufen und in ein paar Sätzen hatte sie es geschafft. Keuchend und hustend stand sie nun unter den schützenden Eichen. Am liebsten wäre sie weiter gerannt, bis sie kein brüllen mehr gehört hätte, aber ohne Herbst ging sie nirgendwo hin. Sie musste sie so schnell wie möglich finden, bevor es ein Monster tat! Ein paarmal atmete sie noch tief ein und aus, bevor sie weiter rannte; diesmal auf der Suche nach ihrer Schwester. >> HERBST! HERBST! WO STECKST DU? << rief Gras panisch durch den Lärm hindurch. >> HERBST! ICH BRAUCHE DICH! << Doch es blieb stumm. Der Lärm dröhnte in ihren Ohren, doch sie hätte gehört, wenn Herbst ihr geantwortet hätte. Mit vor Angst bebendem Körper rannte sie panisch am Rand der Lichtung hin und her, immer auf der Suche nach einem schildpattfarbenen Fell. Doch zu ihrer Enttäuschung konnte sie nirgends ihre Schwester erblicken. Vielleicht ist sie aber auch in den Wald gerannt? Immerhin ist sie fast genauso alt wie du! Warum hast du da nicht schon früher dran gedacht! Ein Hoffnungsschimmer flammte in ihr auf. Konnte es wirklich sein? Hatte Herbst sich schon in den sicheren Wald flüchten können? Gras hoffte es so sehr. Sie wollte nicht ohne sie gehen. Das konnte Gras nicht zulassen! Herbst war ihre Schwester und sie würde alles dafür tun, um sich wieder an ihren Pelz zu schmiegen und ihren süßen Duft einatmen zu können. Nein, alleine würde Gras sie nicht lassen, das schwor sie sich. Also rannte sie los, in der Hoffnung, Herbsts Fell hinter dem nächsten Baum aufblitzen zu sehen. Ihre Ballen brannten immer noch von dem Lauf durch die aufgewühlten Erdhügel. Doch das ignorierte sie. Konzentriert, soweit es mit einer brennenden Lunge möglich war, sog sie die kühle Luft ein, um irgendeinen Hauch von Herbst zu wittern. Schritt für Schritt lief sie weiter durch den Wald, hoffte immer, den Pelz ihrer Schwester hinter dem nächsten Baum aufblitzen zu sehen. Mit jedem Pfotenschritt, den sie sich weiter entfernte, wurde ihre Erleichterung darüber, die großen, gelben Monster mit ihren riesigen Mäulern hinter sich zu lassen, immer größer, jedoch ihre Angst um Herbst und darüber, dass sie sich vielleicht sogar nie wiedersehen könnten, bereitete Gras einen dicken Klumpen im Magen. Sie wollte Herbst nicht verlieren! Warum muss das Leben so schwer sein? Erst Mama und jetzt auch noch Herbst! So etwas hätten meine Eltern nie gewollt! Aber wessen Eltern wollen so ein Schicksal für ihre Jungen? Langsam und mit vor Trauer verschleiertem Blick, trabte die graue Kätzin weiter. Jeder Pfotenschritt wurde zu einer Qual. Doch dann hob sie entschlossen den Kopf. Wenn sie jetzt schon aufgab, konnte sie auch gleich wieder umdrehen und sich zu den Monstern gesellen. Dann war sie nicht mehr wert, als diese stinkenden Monster. Doch das wollte sie nicht. Ich werde Herbst finden! Und wenn es das letzte ist, was ich tue! Das schwöre ich und werde diesen Schwur niemals brechen! Nun schaute die Kätzin zum Himmel. Dort oben waren ihre Eltern und schauten auf sie herab. Zu ihnen hatte Gras gesprochen. Auch wenn sie nicht wusste, ob Sand oder ihr Vater es gehört hatten, war es auch ein Schwur für sie selbst gewesen. Sie würde Herbst finden! Nun mit einem entschlossenen Ausdruck in den Augen trabte sie weiter. Die zuvor schmerzenden Pfoten waren nun nur noch ein dumpfes Stechen. Blätter raschelten unter ihren Pfoten. Der Wind strich ihr sanft durchs Fell. Mit einem glücklichen Seufzen ging sie weiter. Sie sog tief die Luft ein. Jeder noch so kleine Hauch könnte sie näherbringen. Näher zu ihrer Schwester. Näher zu ihrem süßen Duft und ihrem weichen Fell. Sie durfte nicht aufgeben! Gras musste Herbst finden, selbst wenn es nur für ihre Schwester war. Ohne sie fühlte sie sich alleine; verlassen. Ohne sie war das Leben nur halb so schön. Doch plötzlich raschelte es neben ihr. Gras spitzte die Ohren. Konnte es ihre Schwester sein? Jedoch konnte sie keinen Geruch wahrnehmen. Es raschelte weiter. Wieder hob die Kätzin ihre Nase in die Luft, doch so sehr sie sich auch bemühte, ihr wollte einfach kein Geruch in die Nase steigen. Angst stieg in ihr auf. Was war, wenn es ein Dachs oder Fuchs war? Doch einen Fuchs hätte sie selbst dann gerochen, wenn der Wind aus ihrer Richtung gekommen wäre. Füchse hatten einen so starken Geruch, dass man sie kilometerweit riechen konnte. Ihr Gestank ist so überwältigend, dass Gras diesen schon längst bemerkt hätte. Aber was konnte dann dort in dem Gebüsch ein, sie wohlmöglich noch beobachten, aber nicht rauskommen? Falls es ein gefährliches Tier war, hätte es sich bestimmt schon auf sie gestürzt, als es noch die passende Gelegenheit gehabt hatte. >> Wer ist da? << fragte Gras zögerlich, doch ihr Zittern in ihrer Stimme konnte sie unterdrücken. >> Wer wagt es, sich einfach an mich heran zu schleichen, ohne sich zu zeigen? << Mit angstgeweiteten Augen starrte sie auf den Busch. Es raschelte nicht mehr. Verdutzt blieb sie noch eine Weile stehen und wartete, doch es tat sich nichts. Das unbekannte Tier schien weg zu sein, vielleicht sogar davor verschreckt, entdeckt worden zu sein. Dennoch näherte Gras sich langsam und mit vor Angst angelegten Ohren dem Unbekannten. Ihre Beine fingen an zu zittern und ihr Schweif streifte fast die Blätter am Boden. Dennoch trat sie so nah heran, bis ihre Schnauze fast die Blätter berührten. Ohne abzuwarten und zu überlegen, stürzte sie in den Busch. Es war nicht sonderlich schlau, denn dort hätte auch ein Angreifer sitzen können, der sie jetzt attackiert hätte. Aber das hatte sie in Kauf genommen. Erst jetzt merkte sie, wie mausedumm das war. Ihre Pfoten zitterten weiterhin und ihr Herz raste in ihrer Brust. Schweigend lief sie weiter. Sie dachte über ihre Mutter und ihren Vater nach und daran, dass sie Herbst verloren hatte. Sie vermisste alle und hoffte sehr, dass sie ihre Schwester bald finden würde.
Die Sterne funkelten über dem Kopf der kleinen Kätzin, als sie sich zum Schlafen legte. Sie war weit gelaufen, weiter, als sie es je in ihrem Leben getan hatte. Erschöpft und mit leerem Magen legte sie sich auf ihren dürftig zusammengeschobenen Mooshaufen nieder und schloss die Augen. Aber obwohl sie müde war und nur noch schlafen wollte, holte sie diese Erholung nicht ein. Sie wälzte sich hin und her, kniff die Augen zusammen, doch es half nicht. Ihr Körper war erschöpft, doch ihre Gedanken rasten. Wo war Herbst? Was sollte sie tun? Wo sollte sie hin? Was war zu tun, wenn sie Herbst nicht fand? All diese Fragen wühlten in ihrem Kopf herum und hinterließen ein totales Chaos. Es war schwierig für Gras, dabei einen klaren Gedanken zu fassen. Gras gähnte noch einmal, blieb ein paar Herzschläge lang liegen, stand auf, streckte sich und verließ ihren kleinen Unterschlupf. Ihre Pfoten schmerzten noch vom langen Marsch, weshalb sie sich direkt vor den Bau setzte. Sie lauschte. Es war sehr still im Wald, für ihr Empfinden ein wenig zu still. Ein leichter Wind strich um ihren Pelz und zerzauste ihn ein wenig. Mit einem tiefen Atemzug sog sie die klare Waldluft ein. So versuchte sie, etwas Ordnung in ihr Chaos zu bringen. Die frische Luft tat gut, denn dadurch fühlte sie sich ein wenig freier. Doch sie nahm ihr nicht die vielen Sorgen und Ängste, die sich in Gras' Kopf ausbreiteten. Es war nicht sonderlich kalt draußen, doch ihre Beine fingen an zu zittern. Sie hatte Angst. Angst vor dem nächsten Tag, Angst vor der nächsten Zeit. Mama hätte gewusst, was zu tun wäre. Mit Herbst an ihrer Seite hätte sie bestimmt auch eine Lösung gefunden. Doch die Welt sah so groß, so beängstigend aus, dass sie nur hoffen konnte. Noch einmal holte sie tief Luft, stieß sie wieder aus, sodass die kleinen Blätter vor ihren Pfoten aufstoben, erhob sich und ließ sich schwerfällig auf ihrem Haufen Moos nieder. Noch einmal dachte sie an Herbst und daran, dass sie sie vielleicht nie wiedersehen würde und schlief dann traumlos ein.
Als sie wieder erwachte, erhellte die aufgehende Sonne den Wald. Die Strahlen warfen ein rotes Licht zwischen den Zweigen hindurch, sodass alles rötlich erschien. Blinzelnd öffnete Gras ihre Augen. Die Sonne blendete sie, weshalb sie sie zu schlitzen zusammenkneifen musste, um überhaupt etwas sehen zu können. Sie hatte nicht gut schlafen können und hatte sich ständig hin und her gewälzt. So sah auch ihr Pelz aus. Noch einmal streckte sie sich und trat dann aus ihrem Unterschlupf. Hastig glättete sie ihren Pelz und dachte dabei nach, wohin sie gehen sollte. Den Abend davor hatte sie nichts zu Fressen gefunden, da sie einerseits zu erschöpft gewesen war und andererseits kaum etwas aufgespürt hatte. Als sie den Busch mit der kleinen Ausbuchtung erblickt hatte, war sie nur noch dorthin gestolpert, hatte sich von einem Baum in der Nähe ein wenig Moos abgekratzt, dieses im Bau verteilt und hat sich danach sofort hingelegt. Somit knurrte ihr Magen heute umso mehr. Also sprang sie kurzerhand auf, nachdem sie sich ihr Fell geglättet hatte und trabte los. Ein pochender Schmerz schoss von ihren Pfoten die Beine hinauf, aber den ignorierte sie. Sie wollte jetzt nur noch was zu Fressen suchen und danach zu ihrer Schwester!

SISTER - Das Schicksal zweier StreunerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt