Hilf mir!

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„Harry?"
„Mhm..."
„Was ist denn los?"
„Harry? Harry, hörst du mir zu?", Hermine legte ihr Buch zur Seite und sah fragend zu Ron, der nur mit den Schultern zuckte und seinem besten Freund mit dem Ellbogen in die Rippen stieß.
„W-was ist? Tut mir leid, ich war in Gedanken", sagte Harry und sah von seinem Buch auf.
„Merkt man. Sag mal, ist alles in Ordnung?", wollte Hermine besorgt wissen.
„Ja, ja natürlich. Ich bin nur müde. Sorry Leute, aber ich geh schlafen", sagte der Sechzehnjährige, stand auf und verließ den Gryffindor-Gemeinschaftsraum, ohne sich noch einmal umzusehen.
„Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn", sagte Hermine nach einer Weile. Ron nickte nachdenklich.
„Mhm...ja, er ist komisch. Mum würde sagen Pubertät..."
„Ach Ron, glaubst du das wirklich? Nein, es ist was anderes. Die Sache mit Sirius und all das hängt ihm nach. Dann lässt Dumbledore ihn kaum in Ruhe und ach die Sache mit Cho letztes Jahr..."
„Mensch Hermine, das hat er längst abgehakt. Aber ja klar, manchmal möchte ich nicht mit ihm tauschen."
„Wir müssen ihm helfen. So geht das nicht weiter. Ist dir mal aufgefallen, wie dünn er geworden ist? Er streitet sich nicht mal mehr mit Draco..."
„Ja, aber der ist genauso komisch geworden. Hält sich aus allem raus und so. Also, was willst du tun?", Hermine sah Ron an, aber eine wirkliche Idee hatte sie nicht. Harry hatte sich verändert, das war klar. Er war in sich gekehrt. Nahm kaum an Gesprächen teil, aß wenig und wenn man Ron glauben konnte, dann quälten ihn jede Nacht Albträume. Auch den Schlafmangel sah man ihm inzwischen deutlich an. Hermine wusste, dass es einen Menschen gäbe, die ihm helfen konnte, aber ob diese Person es auch tun würde, stand auf einem anderen Blatt.
„Okay, also es hört sich vielleicht verrückt an, aber ich denke, Snape könnte ihm helfen", sagte sie schließlich.
„Nicht nur vielleicht, es ist total verrückt. Warum glaubst du, würde er ihm helfen und wie? Ich meine er hasst ihn doch!"
„Ja, das weiß ich, aber denk doch mal nach Ron. Harry hat nach Sirius nie einem Erwachsenen so sehr vertraut wie Snape. Das weißt du auch. Denk an das Gespräch letztens..."
„Ach so ja, er sagte, Snape hätte ihn wenigstens nie belogen, aber wie willst du ihn dazu bringen, mit Harry zu sprechen?"
„Na ja ich denke, ich oder besser gesagt wir sollten einfach ehrlich sein."
„Wir? Bitte Mine zieh mich da nicht mit rein", jammerte Ron nun.
„Ach Ron, du schaffst das schon und wir tun das ja nicht für uns, sondern für Harry, okay?"
„Habe ich eine Wahl?"
„Nein und nun als kleine Belohnung, gib mir deine Astronomieaufgaben ich korrigiere sie!", sagte Hermine und lächelte.
„Oh wow, danke Mine, du bist die Beste", sagte Ron, gab Hermine einen Kuss auf die Wange und reichte ihr, seine Hausaufgaben.

Ron und Hermine wussten, dass Severus Snape einmal in der Woche eine Sprechzeit für Schüler anbot. Natürlich nahmen nur die wenigsten dieses Angebot wahr. Höchstens die Siebtklässler, kurz vor den Prüfungen und auch dann waren es eher die Slytherins, als andere.
So standen die beiden Gryffindor auch recht nervös zwei Tage später vor dem Büro des Lehrers für Verteidigung gegen die dunklen Künste.
„Miese Idee, ganze miese Idee...", murmelte Ron und trat unruhig von einem Bein auf das andere.
„Ron beruhig dich, was soll er schon machen?"
„Da würde mir Einiges einfallen...", zischte Ron. Hermine schüttelte den Kopf und klopfte an die Eichentür. Es dauerte einige Momente, als ein nicht gerade freundliches „Herein!", erklang. Zögernd traten Hermine und Ron in den Raum. Severus Snape saß hinter seinem Schreibtisch und hob eine Augenbraue, als er die beiden erblickte.
„Ah ja, was verschafft mir denn die Ehre eines Besuchs von Zweidrittel des goldenen Trios?", kam es spöttisch von dem Lehrer. Ron wollte bereits den Rückzug antreten, aber Hermine hielt ihn am Arm zurück.
„Wir müssen mit ihnen sprechen", sagte sie mit fester Stimme.
„Nun Miss Granger, da dies meine Sprechstunde ist, hatte ich nichts anderes erwartet und nun setzen sie sich und stehen nicht da, wie zwei Salzsäulen!", der Mann wies auf die beiden Stühle, welche vor dem Schreibtisch standen. Zögernd nahmen Hermine und Ron Platz. Auffordernd sah der Lehrer sie an.
„Ähm...also es geht um Harry", begann Hermine. Sofort hob Snape eine Augenbraue, sagte aber nichts.
Hermine sah kurz zu Ron, ehe sie weitersprach.
„Also wir machen uns Sorgen um ihn. Er isst nicht richtig, schläft kaum und wenn, dann mit Albträumen. Er redet kaum noch mit uns, i-ist nicht wirklich anwesend", erklärte sie. Der Blick des Lehrers war kaum zu deuten. Es lag zum einen Unglaube und zum anderen etwas kaum Fassbares darin.
„Also um das zusammenzufassen, Dumbledores Goldjunge hat eine pubertäre Depression und sie kommen damit zu mir ausgerechnet zu mir. Wäre das nicht besser bei ihrer Hauslehrerin oder dem Direktor aufgehoben?"
„Ich sagte doch, das ist sinnlos", flüsterte Ron, so leise es ging.
„Nun Miss Granger ich höre...", sagte Snape und warf Ron einen warnenden Blick zu.
„Wir glauben, dass sie ihm helfen können", sagte sie mit fester Stimme.
„Was bringt sie zu dieser Annahme?", nun schien Snape ehrlich interessiert zu sein.
„Er vertraut ihnen...", kam Ron, Hermine zuvor. Der Lehrer verengte die Augen zu Schlitzen.
„Was soll das heißen?", wollte er wissen.
„Das was Ron gesagt hat. Er vertraut ihnen, mehr als allen anderen Erwachsenen", sagte Hermine.
„Warum sollte er?"
„Sie haben ihn nie belogen, auch wenn das heißt...", Hermine stockte und sah zu Ron, der kaum merklich den Kopf schüttelte.
„Was Miss Granger?", wollte Snape streng wissen.
„Auch wenn das heißt, dass sie ihn hassen", sagte sie. Für einen Augenblick schien der Lehrer nicht zu wissen, was er antworten sollte. Ron zog an Hermines Umhang.
„Lass uns bitte gehen", flüsterte er. Sie nickte und stand auf.
„Es tut mir leid, dass wir sie behelligt haben. Wir gehen", sagte sie und Ron sprang auf. Snape sagte nichts, nickte nur und die Freunde verließen das Büro.

„Das hat ja super geklappt", sagte Ron, als sie wieder vor der Tür standen.
„Ja, es war nicht optimal, aber hast du es gesehen?"
„Was? Mein Leben an mir vorbeiziehen? Ja, durchaus!"
„Nein, Ron! Das mit dem hassen, das hat ihn echt getroffen, glaube ich."
„Hermine du bist unverbesserlich. Na gut, vielleicht hat es das, aber wird er ihm helfen?"
„Vielleicht, vielleicht...", sagte Hermine nachdenklich und lief voraus in Richtung Gryffindorturm.

Die Wochen vergingen, ohne dass sich an Harrys Verfassung etwas änderte. Er war viel bei Dumbledore, erledigte seine Hausaufgaben und schien eher zu funktionieren, als wirklich zu leben. Dumbledores Wunsch, dass er über Weihnachten in Hogwarts blieb, trug nicht gerade zur Hebung seiner Stimmung bei.
„Musst du wirklich hierbleiben?", frage Hermine, als sie einen Tag vor den Ferien zusammensaßen.
„Ja, muss ich wohl. Dumbledore hält es für sicherer", sagte Harry und seufzte.
„Der spinnt doch. Was sollst du denn alleine hier? Kein Schüler bleibt dieses Jahr über Weihnachten hier, nicht mal die aus der Siebten!", warf Ron ein. Harry zuckte mit den Schultern.
„Welche Lehrer sind denn noch da?", wollte Hermine zögernd wissen.
„Dumbledore, McGonagall, Flitwick und Snape", zählte Harry auf.
„Klingt ja spannend...", sagte Ron. Hermine warf ihm einen warnenden Blick zu.
„Ach, vielleicht wird es ja nicht so schlimm und...", versuchte sie, Harry zu trösten.
„Schon gut Mine, es ist ja nicht so lange. Macht euch keine Sorgen", sagte dieser und lächelte matt.

Am 24. Dezember saß Harry, wie bereits seit einer Woche alleine mit den verbliebenen Lehrern an einem einzelnen Tisch in der großen Halle. Wie immer vermied er Gespräche, ohnehin war es meistens sowieso nur McGonagall, die ihn etwas fragte. Dumbledore war selten beim Essen dabei und Snape schlang seines hinunter und verschwand immer schnell. Harry hätte es ihm immer gerne nach getan, aber das empfand er als unhöflich. Ohnehin waren die letzten Tage eher langweilig gewesen. Dumbledore hatte selten Zeit für ihn und so kam er viel zu oft zum Nachdenken und das wollte er nicht.
„Ich würde mich dann verabschieden!", sagte er in die Runde und stand auf. Snape, der an diesem Abend ausnahmsweise noch am Tisch saß, warf ihm einen abschätzigen Blick zu.
„Oh Mr. Potter, aber es ist doch Weihnachtsabend, wollen sie nicht noch etwas bleiben?", fragte McGonagall.
„Es tut mir leid Professor, aber ich bin wirklich müde", sagte Harry verlegen.
„Nun gut, dann gute Nacht, Mr. Potter", sagte die Hauslehrerin.
„Gute Nacht Professor...ähm gute Nacht", sagte Harry in die Runde und alle, bis auf Snape nickten ihm freundlich zu. Ohne sich noch einmal umzusehen, lief er aus der großen Halle. Nachdenklich sah Minerva ihm nach.
„Ich mache mir Sorgen um den Jungen", sagte sie mehr zu sich, als in die Runde.
„Mhm...ja, er scheint irgendwie niedergeschlagen zu sein", warf Professor Sprout ein.
„Wundert sie das?", kam es von Snape, der sich mit einer Serviette den Mund abwischte. Die anderen sahen ihn fragend an. Der Tränkemeister rollte mit den Augen.
„Nun er ist sechzehn Jahre alt und verbringt seine Ferien mit seinen Lehrern, statt mit seinen Freunden. Für jemanden wie Potter sicher kein leichtes Los", sagte er etwas abschätzig und erhob sich.
„Wenn sie mich jetzt ebenfalls entschuldigen würden. Wir sehen uns beim Frühstück", sagte Snape und ging ohne ein weiteres Wort.

Harry saß auf seinem Bett im leeren Schlafsaal des Gryffindorturms. Gedankenverloren blätterte er durch sein Fotoalbum. Sein Blick blieb an einem Bild vom letzten Weihnachten hängen. Es zeigte ihn und Sirius. Harry schluckte schwer und klappte das Buch zu. Seufzend sah er sich um. Er fühlte sich selten so allein. Er wusste selber nicht genau, was mit ihm los war. Er wusste, dass es Ron und Hermine gegenüber unfair war, aber solange er selber nicht wusste, warum er nicht essen oder schlafen konnte, was sollte er ihnen da schon erzählen? Eines wusste er aber, er konnte jetzt nicht einfach hier sitzenbleiben und grübeln. Harry griff nach seinem warmen Umhang und dem Fotoalbum und verließ den Gemeinschaftsraum. Selten hatte er die Schule so ruhig erlebt, fast konnte man meinen, dass man den steten Schneefall hören konnte. Er stieg einige Treppen hinauf und öffnete die Tür zum Astronomieturm. Hier draußen wehte ein kalter Wind, aber unter dem Dach war man vor dem Schnee geschützt. Harry legte einen Wärmezauber um sich und setzte sich auf den Boden. Hier oben hatte er das Gefühl freier atmen zu können und er wusste, dass er nicht der Einzige war.

Flashback – 3 Wochen zuvor

Harry lief geschützt unter dem Tarnumhang, durch die nächtlichen Gänge der Schule. Er konnte einfach nicht schlafen und brauchte dringend frische Luft. Wie angewurzelt blieb er stehen, als er durch die Tür zum Astronomieturm trat. Er war nicht alleine wie sonst. Eine Gestalt stand an der steinernen Brüstung und sah offenbar hinab. Harry bewegte sich nicht. Er überlegte, ob er umkehren sollte, aber so wie der andere dort stand, schien er nicht hier zu sein, um die Aussicht zu genießen. Harry zog sich den Umhang vom Kopf und verstaute ihn in einer Steinnische. Vorsichtig ging er näher. Jetzt erkannte er auch, wer derjenige war, der dort stand.
„Malfoy?", sagte er überrascht. Der Slytherin fuhr herum. Er wischte sich über die Augen und funkelte Harry wütend an.
„Was tust du hier, Potter?", wollte er wissen.
„Das Gleiche könnte ich dich fragen", sagte Harry ruhig und kam nun noch etwas näher.
„Das geht dich nichts an!", fauchte Draco und rührte sich nicht. Harry zuckte mit den Schultern. Er ging an Draco vorbei und setzte sich auf den Boden, mit dem Rücken lehnte er an der Balustrade.
„Du willst hierbleiben?", wollte Draco sichtlich irritiert wissen.
„Ist ein freies Land, oder?"
„Ich will aber alleine sein", knurrte Draco. Harry sah zu ihm. Seine Augen trafen auf die sturmgrauen von Draco. Es lag Verzweiflung darin. Harry kannte das, denn er hatte selber in den letzten Monaten oft so ausgesehen.
„Tut mir leid...Mal...Draco, aber dann musst du wohl gehen oder mit mir zusammen alleine sein. Keine Angst ich störe dich nicht", sagte Harry und zog ein Buch hervor. Er schlug es auf und begann zu lesen. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass Draco sich in einiger Entfernung ebenfalls auf den Boden sinken ließ. Sie schwiegen. Harry wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber langsam kroch die Kälte an seinem Rücken empor. Er ließ sein Buch sinken und sah zu Draco, der abwesend ins Leere starrte.
„Wolltest du springen?", fragte Harry und wunderte sich wie ruhig er dabei klang. Draco sah zu ihm. Er schien abzuwägen, ob er etwas und was er sagen sollte.
„Wie kommst du darauf?", Harry legte den Kopf schief.
„Weiß nicht, nur so ein Gefühl. War es denn so?"
„Es geht..."
„Ja, ja ich weiß es geht mich nichts an", sagte Harry und griff wieder nach seinem Buch. Er hörte wie Draco offenbar aufstand und zu ihm kam. Der Slytherin ließ sich neben ihn auf den Boden sinken. Harry spürte die Wärme des anderen, sah aber nicht auf.
„Und du? Warum kommst du mitten in der Nacht her? Nur um zu lesen?"
„Ich kann nicht schlafen", war Harrys einzige Antwort. Wieder schwiegen sie.
„Hab gehört, dass du über die Ferien hierbleiben musst", sagte Draco irgendwann. Harry sah zu ihm.
„Und das freut dich?", fragte er und erkannte zu seiner Überraschung, dass Draco offenbar verletzt war.
„Nein, warum sollte es?"
„Keine Ahnung, ist auch egal. Ich glaube, ich gehe schlafen", sagte Harry, stand auf und drückte den Rücken durch. Bevor er sich zum Gehen wandte, sah er noch einmal zu Draco, der noch immer auf dem Boden saß.
„Mach keinen Scheiß, Draco", sagte er und war schon beinahe aus der Tür, als er Dracos Stimme hörte.
„Harry?", er drehte sich um. Draco stand nun und sah ihn an.
„Dass mit deinem Paten...es tut mir leid, wirklich!", Harry nickte und lächelte matt, ehe er ging.

Flashback Ende

Seit diesem Tag sah Harry, Draco mit anderen Augen. Er war sich nicht sicher, ob Draco wirklich springen wollte, aber er schien ehrlich verzweifelt. Im Nachhinein wusste Harry nicht, was ihn dazu bewogen hatte, Draco irgendwann allein zu lassen, aber irgendetwas hatte ihm gesagt, dass dieser was immer er auch vorgehabt hatte nicht mehr tun würde. Harry seufzte, zog seine Knie an und schlug das Fotoalbum auf.

Severus Snape rieb sich die Augen. So müde er auch war, schlafen konnte er nicht. Frustriert stand er auf und zog sich an. Er hoffte, dass ein Spaziergang helfen würde. Er liebte es, wenn Ferien waren und es in der Schule ruhig war. Keine Schüler, die durch die Gänge rannten, kein Geschrei, keine Zauberunfälle. Severus konnte nicht behaupten, dass er nicht gerne Lehrer war, aber hin und wieder wäre einfach nur Tränkemeister und nichts anderes. Unschlüssig wanderte er herum. Er wollte schon umkehren, als ihn ein kalter Schauer überkam. Von irgendwo her zog es. Snape sah die Treppe hinauf, die zum Astronomieturm führte. Offenbar stand die Tür auf. Mit den Augen rollend, stieg Severus nach oben. Er konnte ja schlecht die Tür offenstehen lassen, sonst würden bald die ersten Treppen voller Schnee liegen. Als er oben ankam, wollte er die Tür gerade schließen, als er Harry entdeckte. Der Junge lehnte an der Steinmauer und schien zu schlafen. Kopfschüttelnd trat Severus näher und hockte sich vor Harry. Er spürte den Wärmezauber und musste anerkennen, dass der Junge nicht ganz so nachlässig war, wie er gedacht hatte. Auf dem Schoß des Schülers lag ein aufgeschlagenes Fotoalbum. Auf der Seite sah man Harry und Black vor einem Weihnachtsbaum stehen. Severus seufzte tief und rüttelte an der Schulter des Jungen.
„Aufwachen, Potter!", sagte er sanfter, als man es hätte erwarten können. Harry blinzelte und schreckte zurück.
„P-Professor was?", Snape richtete sich auf und sah auf ihn hinab. Sein Blick glitt über das Fotoalbum, das Harry sofort zuklappte und hinter sich schob.
„Wollen sie mir erklären, was sie hier oben mitten in der Nacht tun?", fragt er. Harry schluckte schwer und suchte nach einem Ausweg, aber er musste erkennen, dass er mit der Wahrheit hier besser fuhr.
„Ich brauchte einfach frische Luft", sagte er. Snape sah in mit verengten Augen an. Seine Gedanken wanderten wieder zu dem Gespräch, welches er vor einigen Wochen mit Granger und Weasley geführt hatte. Natürlich war auch ihm aufgefallen, wie sehr der Junge sich verändert hatte seit dem Sommer. Er war blass und dünn, hatte dunkle Augenringe und schien allgemein kaum am Geschehen, um sich herum teilzunehmen. Seine stundenlangen Treffen mit Dumbledore schienen es ebenfalls nicht gerade besser zu machen. Severus gab sich einen Ruck und setzte sich kurzerhand neben Harry auf den Boden. Der Wärmezauber umgab nun auch ihn. Harry sah seinen Lehrer vollkommen verwirrt an.
„Also?", sagte Snape und ignorierte Harrys Blick.
„W-was?", wollte dieser wissen.
„Offenbar benötigen sie jemanden zum Reden und hier bin ich, also reden sie!", sagte Severus eindringlich.
„Sir?"
„Potter, keine Ahnung was daran so schwer zu verstehen ist? Ich würde nicht behaupten, dass ich Experte bin für pubertäre Stimmungsschwankungen, aber selbst ein Blinder sieht, dass sie nicht gerade auf der Höhe sind", sagte Severus und musterte den Jungen genau. Dieser schien noch immer vollkommen überrascht zu sein.
„Also was ist mit ihnen?", bohrte Severus nach.
„Sind sie sicher, dass es ihnen gut geht?", über das Gesicht des Lehrers huschte ein kurzes Lächeln, aber schnell wurde er wieder ernst.
„Potter, werden sie nicht unverschämt!"
„Es tut mir leid Sir! Aber ich weiß selber nicht, was mit mir ist. Ich weiß es wirklich nicht. Seit Sirius' Tod...", er stoppte. Harry wusste, seitdem er im letzten Jahr in Snapes Denkarium gesehen hatte, dass der Lehrer sehr unter Sirius gelitten hatte.
„Reden sie weiter!", forderte Snape ihn auf.
„Ich weiß nicht. Ich meine ich hatte nie eine Familie, bis ich nach Hogwarts kam, aber als Sirius kam, da fühlte es sich so an, als könne ich wirklich irgendwann jemanden Richtigen haben, zu dem ich gehöre und dann. Ich weiß es klingt nach Selbstmitleid, aber ich hab mich nie einsamer unter all meinen Freunden gefühlt", sagte Harry und starrte an einen Punkt in der Ferne. Severus beobachtet ihn von der Seite. Irgendetwas störte ihn an der Aussage des Jungen.
„Was meinen sie damit, sie hatten, bis sie nach Hogwarts kamen, nie eine Familie?", Harry blickte zu ihm. Er zögerte, ehe er antwortete.
„Die Dursleys sie...sie behandeln mich nicht wie ein Familienmitglied. Bis ich elf wurde, schlief ich im Schrank unter der Treppe. Ich führte ihnen den Haushalt, bekomme nicht immer etwas zu essen und trage oft nur die abgelegten Sachen meines Cousins. Lange Zeit dachte ich, das sei normal, aber hier hab ich erfahren, was es heißt eine Familie zu haben. Ich weiß, das ist schwer zu verstehen...", sagte Harry und wandte den Blick wieder ab. Severus war einen Moment sprachlos. Er hatte im geglaubt, der Junge sah mit einem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen und nun musste er erkennen, dass Harry Potter ein offenbar vernachlässigtes Kind war.
„Weiß Dumbledore davon?", wollte er wissen.
„Wovon?"
„Den Misshandlungen?", sagte Snape ernst.
„Welche Misshandlungen? Das ist keine Misshandlung. Sie schlagen mich nicht, das müssen sie nicht...", fügte Harry kaum hörbar an.
„Potter!", sagte Snape lauter, als er gewollt hatte. Der Junge zuckte etwas zurück und sah ihn ängstlich an.
„Misshandlung bedeutet nicht nur, dass man sie schlägt. Einem Kind Dinge wie, Essen, Kleidung und Schutz vorzuenthalten, ist auch eine Form der Misshandlung. Also wusste Dumbledore es?", noch immer sah Harry so aus, als würde er nicht wirklich verstehen, was Snape meinte, dann aber schüttelte er den Kopf.
„Nur das mit dem Schrank. Er sorgte dafür, dass ich ein Zimmer bekam. Niemand weiß das! Bitte Professor, behalten sie es für sich!", der flehende Blick des Jungen ließ Severus kaum merklich nicken.
„Warum erzählen sie mir das?", fragte er nach einer Weile des Schweigens. Harry zuckte mit den Schultern.
„Weiß nicht. Ich vertraue ihnen. Sie waren nie unehrlich zu mir, haben mir nie etwas vorgemacht", es waren die Dinge, die Severus bereits von Ron und Hermine wusste. Er musste erkennen, was Harry mit dem Tod von Black alles verloren hatte. Die Hoffnung auf ein Leben weit weg von seinen Vormündern, jemanden zu dem er gehörte und letztendlich eine Verbindung zu seinen Eltern.
„Vielleicht war ich nicht immer ganz fair", sagte Snape nun langsam. Harry sah auf und schüttelte den Kopf.
„Tun sie das nicht. Ändern sie ihr Verhalten nicht, bloß weil sie nun wissen, dass ich nicht auf Händen getragen wurde. Ich versteh ihren Groll auf meinen Vater und Sirius. Ich verstehe es wirklich", sagte Harry und wieder war Severus sprachlos. Wie konnte ein Kind, das so aufgewachsen war, nur so viel Empathie empfinden.
„Sie sind nicht ihr Vater!", sagte er mit fester Stimme. Harry sah wieder zu Severus und grinste nun.
„Geht es ihnen wirklich gut?", Snape rollte mit den Augen.
„Na schön lassen wir das", sagte er.
„Hat Dumbledore ihnen nicht geholfen, über Blacks Tod zu sprechen, sie waren häufig bei ihm seitdem Sommer."
„Aber aus anderen Gründen, wir haben nie über das gesprochen, was im Ministerium geschehen ist", sagte Harry sichtlich irritiert. Snape konnte es nicht fassen. Er hatte immer geglaubt, Albus wollte Harry bei den regelmäßigen Terminen helfen, über den Tod seines Paten hinwegzukommen, und nun erfuhr er, dass er den Jungen vollkommen alleine mit seiner Trauer gelassen hatte.
„Wissen sie, was das Schlimmste ist? Ich kann nicht mal weinen und das tut mehr weh, als alles andere", sprach Harry weiter.
„Warum glauben sie, ist das so?", fragte Snape ruhig. Harry zuckte mit den Schultern.
„Irgendwie fühl ich mich einfach nur leer und erschöpft. Kurz nach seinem Tod war alles wie in Zeitlupe, ich war erstarrt. Er war einfach weg. Als ich wieder in den Ligusterweg kam, da konnte ich nicht trauern, denn das hieße, Schwäche zeigen und wieder hier...", Harry stoppte und schüttelte den Kopf. Severus ahnte, was ihn abhielt.
„Wissen sie Potter, wenn die Trauer lange dauert, dann zermürbt sie einen. Besonders dann, wenn wir niemanden zum Reden haben. Sie flüchten sich in blanken Aktionismus und drücken alle Gefühle weg. Aber so etwas macht auf Dauer krank und nun bin ich froh, dass ihre Freunde bei mir waren", sagte Severus und Harry sah ihn mit Unverständnis an.
„Ron und Hermine waren bei ihnen? Ron?", Snape lächelte leicht.
„Ja, weil sie sich Sorgen machen. Nun, ich muss gestehen, dass ich auch einigermaßen überrascht war, dass sie zu mir kamen, aber nun verstehe ich es. Nicht nur ich war immer ehrlich zu ihnen, auch sie waren meistens ehrlicher zu mir, als zu anderen Lehrern, nicht wahr?", Harry nickte. Es stimmte, er hatte Snape gegenüber selten etwas verheimlicht, auch wenn es meistens aus einer Art Trotz heraus entstand.
„So und nun weiter, was belastet sie noch?", wollte Severus wissen. Er sah, dass die Trauer um Black längst nicht alles war, was den Jungen umtrieb. Harry schwieg.
„Ist es Dumbledore?"
„I-ich weiß nicht, ob ich das was er will, wirklich erfüllen kann. Ich will ihn nicht enttäuschen, verstehen sie?", brach es aus Harry heraus. Severus nickte nachdenklich. Natürlich wollte Harry es dem Schulleiter recht machen, für ihn war der Mann offenbar die erste wirkliche männliche Bezugsperson gewesen.
„Er verlangt viel von ihnen, nicht wahr?"
„Ich weiß nicht. Ja, manchmal habe ich das Gefühl, aber er tut auch viel, um mich zu schützen, oder?"
„Ja, sicher", sagte Snape steif.
„Als Sirius im Ministerium starb, da war mir für einige Augenblicke egal, was mit mir geschehen würde. Ich wollte einfach aufgegeben. Dumbledore aber sagte, ich solle mich darauf besinnen, was mich von Voldemort unterscheidet. Meine Freunde, Menschen die sich um mich sorgen...", Harry brach ab. Severus beobachtete ihn von der Seite. Auf einmal hatte Harry einen seltsam gequälten Gesichtsausdruck. Er schien alles, was geschehen war, wieder und wieder Revue passieren zu lassen, so wie in den letzten Monaten, aber heute war es anders. Severus tat etwas, dass ihn wohl selbst am meisten überraschte. Er legte dem Jungen einen Arm um die Schulter und zog ihn an sich. Harry schien zuerst vollkommen überrascht und versteifte sich etwas, aber irgendwann begann er, zu schluchzen, und dann klammerte er sich an den Lehrer und weinte das erste Mal um Sirius. Snape tat nichts, war nur da, strich Harry über den Rücken und murmelte beruhigende Worte. Dieser eine Abend hier auf dem Astronomieturm hatte seine Sicht auf den Jungen-der-lebt vollkommen verändert. Sie waren sich sehr viel ähnlicher, als der Lehrer je geglaubt hatte. Nein, Harry Potter, war nicht sein Vater oder seine Mutter, er war Harry, das hatte nun auch Severus erkannt. Irgendwann wurde das Schluchzen weniger und Harry richtete sich auf, wischte sich über die Augen und sah Severus verlegen an.
„E-es tut mir leid, das wollte ich nicht. Ich sollte jetzt gehen", sagte er schnell und sprang auf. Snape war ebenfalls rasch auf den Beinen, auch wenn das Sitzen auf dem Boden dafür gesorgt hatte, dass seine Beine etwas taub waren. Er hielt Harry an der Schulter fest.
„Was tut ihnen leid?"
„D-das...das alles hier. Sie...sie hassen...also sie mögen mich nicht und doch haben sie mir zugehört. Ich wollte sie nicht in so eine Situation bringen", sagte Harry und sah zu Boden.
„Mr. Potter hören sie mir jetzt gut zu! Ich hasse sie nicht, sicher ich war nicht immer fair und oft auch sicher zynisch ihnen gegenüber, aber ich hasse sie nicht und habe es nie. Das müssen sie mir glauben. Ich fand sie heute hier und blieb, nicht weil ich es musste, sondern weil ich es wollte und sie offenbar wirklich Hilfe brauchten. Ich habe heute erkannt, dass ich mich in ihnen getäuscht habe und ich meine nicht ihre häusliche Situation", Harry sah auf und suchte in den Augen des Mannes nach so etwas wie Spott oder Hohn, aber er fand darin nur Aufrichtigkeit.
„D-Danke...", sagte er zögernd. Snape nickte und lächelte. Harry grinste nun.
„Was ist so amüsant?"
„Ich glaube, ich habe sie noch nie so lächeln sehen, das glaubt mir Ron nie!"
„Oh bitte behalten sie das für sich. Mr. Weasley soll ruhig etwas Angst haben", sagte Severus munter. Harry nickte.
„Also, wie wäre es mit einem Tee?", fragte Snape.
„Jetzt?"
„Ja, jetzt"
„Gerne", sagte Harry etwas überrascht.
„Gut, dann folgen sie mir", sagte Snape und ging voran. Erst jetzt spürte Harry, dass der Wärmezauber nachgelassen hatte. 

Hilf mir!Where stories live. Discover now