Kapitel 3

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Seit zwei Tagen versuchte Julie sich jetzt schon auf ihrem Zimmer zu verstecken. Seit dem Gespräch mit ihren Eltern war ihr jegliche Lust etwas zu tun, vergangen. Sie konnte sich zu keiner der Aktivitäten aufraffen, die ihre Freunde auf der Station ihr vorschlugen und bekam das Essen nur mühsam runter. Einzig die kritischen Blicke der Krankenschwestern hielten sie davon ab, das Essen einfach in den Müll zu werfen.

Wie konnte ihre Mutter eigentlich erwarten, dass Julie und Matt sich gegenübertraten, als ob nichts passiert wäre? Dabei war schon viel zu viel passiert. Natürlich hatte ihre Beziehung auch ein paar Tiefpunkte gehabt, aber in welcher Beziehung lief schon alles gut. Bis jetzt war ja auch nach jedem Tief wieder ein Hoch gekommen. Oder nicht? Julie hatte das Gefühl gehabt, dass sie beide glücklich damit waren, wie es bis dahin gewesen war.

Aber als sie Matt beim Fremdgehen erwischt hatte, hätte sie es eigentlich nicht überraschen müssen. Schon bevor sie zusammengekommen waren, war Matt für seine Seitensprünge bekannt gewesen. Sie war bloß zu blind vor Liebe gewesen, um sich davon abhalten zu lassen. Und was hatte er getan? Ihr Vertrauen vollkommen ausgenutzt. Sie hatte bloß auf die beiden geguckt, wie sie dalagen, halb nackt, Matt's Hals verschmiert mit dem knallrosa Lippenstift. Ihrem Lippenstift. Sein T-Shirt lag auf dem Boden neben ihnen. Lilly hatte nur noch ihren BH angehabt. So einer bei dem mehr zu sehen war, als er verdeckte. Der Sturzbach der Tränen kamen erst, als sie wie betäubt den Gartenweg entlanggestolpert und auf die Straße getreten war.

Da erst flossen sie Julies Gesicht herunter, aus den Augen über die Wangen in Richtung Kinn. Der Fluss nahm gar kein Ende und ihre Ärmel waren schon aufgeweicht und voller Mascara gewesen von all dem Reiben über ihre Augen. Trotzdem war ihr Blick noch mehr als verschwommen gewesen.

Von da an herrschte eine große Leere in ihrem Kopf. Egal wie sehr sie sich anstrengte, sie wusste nicht, was in dieser Nacht danach geschehen war. Sie konnte sich weder daran erinnern, wie der Unfall passiert war, noch wer sie ins Krankenhaus gebracht oder den Krankenwagen gerufen hatte. War es der Fahrer selbst gewesen? Oder hatte sie ein Fußgänger zufällig entdeckt? Sie wusste es einfach nicht. Es war zum Verzweifeln.

Julie raufte sich die Haare, die schon ganz verfilzt waren, weil sie innerhalb der letzten beiden Tage so oft darin herumgewühlt hatte. Schnell rechnete sie nochmal nach. Morgen würde er kommen. Sollte er kommen. Morgen schon, dabei hatte sie versucht, es einfach zu verdrängen. Aber das hätte es auch nicht gebracht, ihre Mutter ließ sich nicht überreden, den Termin abzusagen.

„Schnecke, ich hab ja so viel in Bewegung setzten müssen, damit dieser Termin zustande gekommen ist. Kannst du dir das überhaupt vorstellen? Ich finde, dukönntest eigentlich ein bisschen dankbarer sein. Schließlich habe ich das alles nur für dich getan", meinte ihre Mutter bei ihrem Telefonat gestern. Julie hatte gewusst, dass ihre Mutter ihr Vorwürfe deswegen machen würde. Aber Rosa hatte ihr so energisch das Telefon in die Hand gedrückt, dass Julie gar nicht anders konnte, als ranzugehen. Ihre Mutter hatte wohl alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit er kommen konnte. Sie schnaubte verächtlich.

Julie konnte seinen Namen kaum denken, geschweige denn aussprechen. MATT. Sie wollte die angestaute Luft verärgert ausstoßen, aber heraus kam nur ein trauriger Seufzer. Julie konnte sich gerade noch so davon abhalten, wieder zu weinen. Gleich würde Gina kommen und da wollte sie nicht wie der letzte Rest aussehen, obwohl sie sich mehr als so fühlte.

Sie hatte gerade noch Zeit sich die Haare zu kämmen und etwas anderes als ihr dünnes Krankenhausnachthemd anzuziehen, als die Tür schon stürmisch aufgeschlagen wurde. Herein kam ihre beste Freundin. „Man, die wollten mich gar nicht zu dir durchlassen, kannst du dir das vorstellen?", fing Gina auch gleich ohne Punkt und Komma an zu erzählen. "Dabei hab ich doch gestern extra angerufen, damit die schon mal Bescheid wissen, dass ich komme. Ich weiß gar nicht, was die hatten", regte sie sich weiter auf, kaum dass sie auf Julies Bett saß. Diese musste sich ein Lachen stark verkneifen. Mit ihren bunt getönten Haaren, dem etwas anderen Klamottenstil und den vielen Armreifen sah Gina vermutlich nicht wie die meisten Jugendlichen ihres Alters aus.

„Sag mal, hast du dir etwa jemanden hier angelacht?", kam sie auch gleich auf den Punkt. Julie fragte sich, wen Gina meinte. Sie konnte sich an niemanden erinnern, an dem sie angeblich interessiert gewesen sein soll. Höchstens Max von ihrer Station, mit dem sie sich ein bisschen angefreundet hatte, aber eigentlich konnte sie sich nicht vorstellen, dass er gemeint war.

„Na, da stand so nen Typ hinter mir in der Schlange, als ich mit dem Personal diskutiert habe. Als sie mir endlich deine Zimmernummer gegeben haben, hat er mich gefragt, wen ich denn besuche. Dachte vielleicht, der hat ein Auge auf dich geworfen", erklärte sie auch gleich, wobei sie viel gestikulierte, um ihr Worte zu unterstreichen.

Jetzt war Julie mehr als überfragt, wen Gina meinte, als ihr ein abwegiger Gedanke kam. „Hatte der so einen weißen Verband an der Hand und eine kleine Schramme im Gesicht?" fragte sie aufgeregt nach. „Ja, stimmt!", erinnerte sich ihre beste Freundin, „obwohl das seinem Aussehen auch kein Abbruch getan hat. Es hat ihn auf jeden Fall noch heißer gemacht, als er eh schon ist." Bei diesen Worten kicherte sie und ein verträumter Ausdruck trat in ihre Augen.

Julie grübelte nach, warum der Junge wissen wollte, wo ihr Zimmer lag. Sie kannten sich nicht, was also wollte er? Sie versuchte aus Gina noch ein paar Informationen herauszuquetschen, aber es war zwecklos. In Gedanken war sie schon mit dem Typen zusammen und bereitete vermutlich auch noch die Hochzeit vor. Also musste Julie sie möglichst schnell auf den Boden der Tatsachen zurückholen, indem sie ihr mitteilte, dass er vermutlich eine Freundin hatte.

„Im Krankenhaus spricht sich sowas sehr schnell rum, besonders wenn man jemanden täglich besucht. Die Schwestern tratschen sehr viel, man muss nur dir richtigen Fragen stellen." Die beiden grinsten sich verschwörerisch an und mussten dann lachen.

„Hm, schade, echt jetzt, und was wollte er dann von dir? Kennt er dich etwa? Vielleicht sollten wir uns mal mit ihm treffen?", fragte Gina hoffnungsvoll. Der verträumte Ausdruck kehrte sofort in ihre Augen zurück.

„Ich weiß es wirklich nicht, wir sind auf dem Gang nur einmal zufällig zusammengestoßen. Das wars aber auch schon. Und er war ziemlich schroff zu mir." erinnerte sich Julie und zuckte mit den Achseln. Dann erzählte sie die Geschichte von ihrer Begegnung. Aber auch Gina konnte sich keinen Reim auf seine Fragen am Empfangstresen machen.

Später am Abend, als Gina gegen war, erinnerte sich Julie nocheinmal an ihre Begegnung im Flur zurück. War ihr irgendwas entgangen? Vielleicht kannten sie sich ja doch und sie hatte es bloß wieder vergessen. Man, das wäre vielleicht peinlich gewesen. Aber er kam ihr nicht bekannt vor und so wie er sie behandelt hatte, sie ihm wohl auch nicht. Julie griff nach der Schokolade, die Gina dagelassen hatte. „Vielleicht", überlegte sie kauend, „sollte ich mich morgen nach ihm erkundigen."

Unsere Hoffnung stirbt zuletztWhere stories live. Discover now