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Ich fixiere den Sand um mich herum einen Moment lang prüfend. Natürlich könnte ich meine Superstärke nutzen, um mich heraus zu kämpfen oder meine telekinetischen Fähigkeiten, um mich in die Luft zu heben, aber ich entscheide mich für eine elegantere Methode. Ich erhitze meine Fußsohlen allein durch Kraft meiner Gedanken auf etwa 2000 Grad, wobei meine Schuhe selbstverständlich vollkommen unversehrt bleiben. Der Sand unter mir verfestigt sich augenblicklich zu festem Glas. Ich mache einen Schritt und wiederhole die Prozedur, bis ich eine Art Treppe aus Glas erschaffen habe, auf der ich bequem nach oben steigen kann. Dass das aus wissenschaftlicher Sicht gar nicht möglich sein sollte, da Sand beim Erhitzen eigentlich erst einmal flüssig wird, bevor er sich zu Glas verfestigt, ignoriere ich. Immerhin bin ich Mary Sue. Logik ist für mich nur relevant, solange sie mir in den Kram passt.

Als ich auf der Oberfläche des Treibsands stehe, werfe ich einen Blick nach unten und mustere zufrieden die neu entstandene Glasplatte zu meinen Füßen, die ganz nebenbei in ihrer Klarheit und Qualität eher einem Kunstwerk als einem Hilfsmittel gleicht.

„Du hättest die ganze Zeit entkommen können", krächzt Amora. Schweißperlen stehen auf ihrer Stirn, während sie verzweifelt dagegen ankämpft, weiter einzusinken, aber das hält sie nicht davon ab, mir einen mörderischen Blick zuzuwerfen. „Ich hasse dich so sehr."

„Komm schon", ich grinse sie breit an, „wir wissen beide, dass das nicht wahr ist."

Amora verwendet ein nicht ganz jugendfreies Wort, woraufhin ich ihr eine Kusshand zuwerfe. Kassandra sieht uns nur mit großen Augen an, aber vielleicht liegt das auch daran, dass Augen und Nasenspitze das einzige ist, was noch aus dem Sand herausschaut. Ich schreite zu ihr hinüber, wobei sich unter meinen Füßen neues Glas bildet, und ziehe sie unter Einsatz meiner Superstärke mit einem Ruck aus dem Sand.

„Danke", hustet Kass. Sie geht neben mir auf der Glasplatte in die Knie und spuckt ein wenig Sand aus. Dann gleitet ihr Blick zur Seite und wandert suchend in der Luft herum.

„Weißt du, wir kennen uns schon so lange", sagt sie und verschränkt die Arme, wobei weiterer Sand von ihr herabbröselt. „Ich kann nicht fassen, dass du mich eher sterben lassen würdest, als auch nur ein Wort mit mir zu wechseln!" Sie hält einen Moment inne. Als sie fortfährt, klingt ihre Stimme frustriert. „Ich weiß, dass du mich hören kannst!"

Ich bin einen Moment irritiert, bis mir aufgeht, dass Kass sich mit ihrem unsichtbaren Stalker unterhält und nicht mit mir. Das ärgert mich ein wenig, immerhin bin ich diejenige, die ihr gerade das Leben gerettet hat, also sollte man eigentlich meinen, dass sie mir ein bisschen mehr Aufmerksamkeit schenken würde, aber da ich eine Mary Sue bin, entscheide ich schließlich großmütig, darüber hinwegzusehen.

„Weißt du, ich bin nicht wütend, nur enttäuscht", höre ich Kass noch vorwurfsvoll sagen, bevor ich mich Amora zuwende. Diese beachtet mich ärgerlicherweise auch nicht. Stattdessen hat sie ihre Augen geschlossen. Bilde ich mir das nur ein oder wirkt das, was von ihrem Gesicht noch nicht von Treibsand bedeckt ist, ungewöhnlich bleich?

„Hey, Ami", sage ich und beuge mich zu ihr hinunter. „Ich biete dir einen Handel an. Ich ziehe dich aus dem Treibsand heraus und dafür wechseln wir als nächstes in meine Welt und schauen uns alle gemeinsam den Film von der Hamsterkönigin an. Was sagst du?"

Ich grinse. Bei mir zuhause liegt noch eine Menge Mikrowellenpopkorn herum, das nur darauf wartet, gegessen zu werden. Ich frage ich mich auch, was mein Pudel/böser Wissenschaftler Klischee wohl momentan so treibt. Ob er sich schon zurückverwandelt hat? Außerdem bin ich gespannt, ob in meiner Abwesenheit meine Weltherrschaft gestürzt worden ist und wenn ja, von wem. Alles gute Gründe mal wieder die schöne, alte Heimatwelt aufzusuchen.

„Klar", murmelt Amora, ohne die Augen zu öffnen. „Mir egal."

Ich runzle irritiert meine wohlgeformte Stirn. Ich hätte mit Empörung und mindestens einer Drohung, mich in einer Welt ohne Fernseher und Internet auszusetzen, gerechnet. Wenn sie einfach so zustimmt, macht das keinen Spaß.

Seufzend ziehe ich auch Amora aus dem Treibsand und stelle sie ebenfalls auf die Glasplatte. Sie schwankt und nur mein beherztes Eingreifen verhindert, dass sie gleich wieder umstürzt. Ich runzle die Stirn. Ob das schon die ersten Auswirkungen des Gifts sind, das Amora durch den Schlangenbiss injiziert worden ist? Kann es sein, dass es sich wirklich so schnell ausgebreitet hat?

„Amora, geht's dir nicht gut?", erkundigt sich Kass besorgt und macht Anstalten, ihr die Hand auf die Stirn zu legen, um ihre Temperatur zu fühlen.

„Alles in Ordnung", keucht Amora und schiebt Kassandras Hand zur Seite. „Lasst uns gehen."

Ich mustere sie stirnrunzelnd. Ihr einst so professioneller Hosenanzug ist über und über mit Sand bedeckt, ihre Brille sitzt schief und ihre Augen sind halb geschlossen. Schweiß sammelt sich auf ihrer Stirn und ihr Gesicht ist kalkweiß. Man muss keine Mary Sue sein, um zu erkennen, dass mit ihr nicht alles in Ordnung ist. Aber bevor ich Einspruch erheben kann, ergreift Amora meine Hand und ich spüre das vertraute Ziehen, das sich jedes Mal einstellt, wenn wir in eine andere Welt wechseln. Doch etwas ist anderes. Das sanfte Rauschen und der Geruch nach altem Papier bleiben aus. Stattdessen stinkt es verbrannt. Dann setzen die Schmerzen ein. Etwas stimmt hier ganz und gar nicht!

Die Chroniken der durchgeknallten WeltenreisendenWhere stories live. Discover now