visions of gideon - Irgendwie, irgendwo, irgendwann

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Der blühende Apfelbaum wiegte sich sanft im Wind, während sich zwei schemenhafte Figuren in seinem Schatten niederließen. Es war ein noch recht frischer Maitag und trotz der kalten Brise, die die zwei Männer umschmeichelte, erwärmte die Sonne die Luft zu genüge. Der ältere der beiden blickte, auf dem Rücken liegend, durch die Äste hindurch gen Himmel. Der jüngere jedoch bevorzugte einen Stein, den die Beiden gemeinsam vor einiger Zeit an diesen Ort – ihren Lieblingsplatz für warme Sommertage und die darauffolgenden Abende – geschafft hatten. Es war erstaunlich, wie schnell die Jahre ins Land gezogen waren. Inzwischen waren sie zu jungen Männern herangewachsen und doch; an diesem Ort konnten sie immer zurück zu ihrem Ursprung – ihren Wurzeln – finden, ohne Gedanken daran verschwenden zu müssen verurteilt zu werden.
Der Blick der Frau, die die Beiden nun schon eine Weile beobachtet hatte war klar und doch schienen ihre blauen Augen weiter zu blicken, als es der Anschein vermuten ließ. Vielleicht war sie gerade in jenem Augenblick gefangen in alten Träumen und in einer Zeit, in der ihr der Anblick der beiden Jungen noch keine Sorgen bereitet hatte.
Tief in ihrem Inneren schmerzte es sie zu wissen, dass dieser (friedliche) Augenblick nur die Ruhe vor dem Sturm war. Einem gewaltigen Sturm, der alle bestehenden Verhältnisse erschüttern und die Bindung der Beiden unweigerlich zerrütten würde. Und doch wusste sie, dass es so sein musste. Eigentlich hatte sie es schon immer gewusst, seit sie sie das erste Mal dort gesehen und beobachtet hatte – nur wirklich wahrhaben wollen hatte sie es nie so recht oder sie hatte gehofft, dass sich die Situation und das Gewirr aus Emotionen von selbst legen würden. Nun ja; sie hatte immer daran festgehalten. Nicht aus Bequemlichkeit, sondern viel eher – ja gerade da sie keinen der Beiden leiden sehen wollte. Es lag in ihrer Natur dies um jeden Preis verhindern zu wollen. Doch der über die Jahre hinweg angestaute Groll und die Verbitterung würden auch sie überrollen und schließlich mit sich reißen. So viel wusste sie mit Sicherheit.
Der melancholische Blick der Frau hielt nur für einen kurzen Moment an, bevor sie sich wieder fasste. Und doch war er da gewesen; auch wenn nun nichts mehr darauf schließen ließ. Der sorgenvolle Blick der Frau, deren Gesichtszüge erste Spuren des Alterns zeigten schweifte erneut hinüber zu dem Platz unter dem Apfelbaum und nahm eine liebevolle Note an. Wie oft sie schon hier gesessen hatte, um die Eindrücke der meist prächtigen, weitestgehend unberührten und nur selten stellenweise verdörrten Landschaft auf sich wirken zu lassen oder sich zu sammeln. Nicht selten war dies mit eben solchem Anblick wie jetzt verbunden gewesen. Sie hatte sich manchmal unerwünscht gefühlt, obwohl sie unbemerkt geblieben war und manchmal – von Zeit zu Zeit – wie ein für die Figuren stummer, aber dennoch allwissender Erzähler des Geschehens aus einem ihrer Romane. Auch heute hatte sie letztere Empfindung wieder in ihren Bann gezogen. Dennoch schien ein Anflug von Sorge noch immer irgendwo tief in ihren Augen zu liegen.
Als es begann zu dämmern schien die Alte aus ihrem Tagtraum zu erwachen und sie rieb sich leicht über ihre Augen. Eine graue Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht, welche sie daraufhin direkt achtlos beiseite strich; ihr Blick war glasig und leer und nur ihre blauen Augen schienen weiterhin den verlassenen Platz unter einem alten knorrigen Apfelbaum, der schon lange keine Früchte mehr trug, mit dem einsam daliegenden moosbedeckten Stein, zu fokussieren.
Nur so war es einem außenstehenden Betrachter möglich den Gedankengang der einmals anmutigen Dame zu erahnen und ebenso die Tiefe ihrer Seele in denen Geheimnisse, Erinnerungen und unausgesprochene Träume verschlossen lagen; ohne ihre Gestalt wirklich ergründen zu können...













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