Kapitel 3 James

21 4 2
                                    

Zuhause. Ein Ort, an dem man sich geborgen und sicher fühlte. Ein Ort, an dem geliebte Menschen auf einen warteten. Ein Ort, der Baal oder besser gesagt James gänzlich fremd war.

Aber wenn eine Sache nur ansatzweise an ein Zuhause ran kam, dann war es diese winzige Couch im Wohnzimmer dieses wild bemalten Wohnwagens. Zwar ragten seine schmalen, knochigen Füße über dem Rand hinaus und generell wehte ein raues Lüftchen durch die dünnen Wände hindurch, doch hier würde ihm niemand etwas Schlechtes wollen. Elara und ihr Mann gehörten zu den Guten. Für so etwas hatte er einen Riecher, sonst würde einer wie er heute nicht dort liegen, wo er nunmal lag. Dennoch fiel es James schwer zur Ruhe zu kommen. Er drehte und wendete sich, so gut es auf dieser schmalen Couch funktionierte. Seine gesamte Kindheit hatte man ihn auf Taschendiebstähle und grausame Raufbolde konditioniert. Ohne ein halboffenes Auge schlafen zu gehen, war für ihn schon fast unnatürlich. Dennoch raffte die Erschöpfung ihn irgendwann dahin.

Die Rabennase von Miss Santiago ragte über ihn auf. Ihre wässrig-trüben Augen schauten auf ihn herab. Zwar zitterte sie bereits und konnte die Essensportionen nicht mehr ganz so genau in die Schüsseln feuern, doch zum Piesacken von armen Waisen hatte sie stets genügend Energie übrig. Manchmal vermutete James, dass sie nur diese eine Sache am Leben hielt. Und der Tag, an dem sie mit der dünnen Pensionierung einer Küchenchefin nach Hause geschickt werde würde, würde exakt als ihr Todesdatum datiert werden, dessen war er sich sicher.

"Hier, eine Portion Rattenfleisch für die Ratte", ihre kratzige Stimme klang, als hätte sie zu lange am Kamin gestanden und den Rauch eingeatmet.

"Aber ich bin keine Ratte!", entgegnete eine wesentlich jüngere Version seiner selbst.

Ein schreckliches Lachen prasselte auf ihn herab, als würde die Rabennase nach ihm picken. Plötzlich kam er sich ganz mickrig vor, mickrig und allein.

"Du, mein lieber Jamie, wirst niemals etwas anderes, als eine Ratte sein!", prustete sie amüsiert und knallte eine schleimige, undefinierbare Essenration auf sein Tablett, zu fünfzig Prozent vorbei an seiner Schüssel.

"Meine Name ist James", murmelte er nicht nur im Traum kleinlaut und öffnete wieder die Augen. In seiner Brust breitete sich eine rege Rastlosigkeit aus, die in seinem Kopf endete und sich zu einer fixen Idee entwickelte. Plötzlich sprang er auf und jagte wie ein aufgescheuchter Hahn aus dem Wohnwagen. 

Die Sonne war gerade erst aufgegangen und strahlte eine kühle Wärme aus, die sich im Laufe des Tages noch in eine unerträgliche Hitze wandeln würde. Die Luft schmeckte frischer, als hätte noch niemand von ihr gekostet. Ein leichter Nebel zog zwischen den im Kreis stehenden Wohnwägen vornüber. Es hätte so friedlich sein können, wenn nicht ein gewisser dürrer Kerl in Unterwäsche quer über den Platz gehetzt wäre. 

Er lief zum Attraktionszelt, stand davor und drehte sich wieder herum. Dabei ließ er wilde Blicke umherschweifen. Die gesamte Zeit über beobachtete Alev ihn. Sie beobachtete ihn, wie er über einen Maulwurfshügel stolperte, wie er versuchte wieder das Gleichgewicht zu erlangen, was ihm jedoch nicht glückte. Sie beobachtete ihn auch noch, als er bereits mit den Knien auf dem Rasen aufgekommen war und verzweifelt auf den Boden schlug. Gelassen schnitt sie ein Stück Apfel und steckte es sich, eingeklemmt zwischen Daumen und Messer, in den Mund.

Es dauerte mehrere Minuten, bis er den ersten Schock überstanden hatte. Nochmals sieben Minuten später bemerkte er, dass Alev vor dem Familienwohnwagen saß. James erstarrte. Er sah sie an, sie sah ihn an. Bis sie ihm winkte. Alev vollführte keine hektische Bewegung. Ihre Hand nahm sich alle Zeit der Welt von der einen zu der anderen Seite zu wandern und wieder zurück. Er kopierte sie. Dann legte sie den eingeschnittenen Apfel auf die Treppe neben sich, stand auf und kam zu ihm herüber. James richtete sich ebenfalls auf. So gut es ging, klopfte er den Staub von dem wenigen Stoff, den er trug.

FreakshowWhere stories live. Discover now