Abschluss, alles ist anders.

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Liebe Molly,

Abschlüsse schließen eine Tür; und öffnen unzählige mehr. Aber immer bringen sie auch große Veränderungen mit sich. Niemals bedeutet ein Abschluss, dass alles bleibt, wie es war. Es verändern sich Gewohnheiten und Tagesabläufe. Es wechseln die Aufgaben, die Bekannten, die Umgebung. Es schließt sich eine Tür, die niemals mehr aufgeht. 

So auch mein Abitur.

So auch dein Abitur. Du hast dich entschieden, weg von deiner Familie zu gehen. Hast dich entschieden, in eine fremde Stadt zu ziehen. In Bonn hätte dich alles erwarten können. Dein Untergang, die große Liebe, beste Freunde, ein großes Meer an Gleichgültigkeit. Alles. Aber du hast dich entschieden diese Tür zu öffnen. 

Und darüber bin ich so unglaublich glücklich. Als ich dich an dem Abend vor dem Bonner Hauptbahnhof aufgabelte und dir deinen Weg zeigte, gab ich dir nicht nur einen ruhigen Abend ohne das Suchen nach der richtigen Bahn. Nein, ich habe dir auch ein Leben mit auf den Weg gegeben. Nicht dein Studium oder deine Hobbys haben dir einen neuen Freundeskreis gebracht. Als du dich an diesem Abend vor gestellt hast, unterschriebst du damit die Entscheidung mit mir deinen Weg zu gehen. Du hast dich damit entschieden, Bonn nicht durch irgendjemanden kennen zu lernen. Sondern durch mich.

Was würdest heute von der Bank im Park denken, wenn ich damals vorbei gegangen wäre? Würdest du die gleiche Melodie anstimmen? Würdest du das gleiche Lächeln aufsetzen und mit dem gleichen leichten Schritt an ihr vorbei gehen? Oder hättest du andere Bilder in deinem Kopf? Würden dir die Tränen kommen im Anblick des Grauens, das auf dieser Parkbank statt gefunden hat? Würdest du abfällig über das Pärchen auf der Bank schmunzeln? Oder würdest du dort vor deinen Prüfungen sitzen, ohne jegliche Erinnerung, nur zur Entspannung? Würdest du einfach aufstehen, gehen und schon zwei Schritte weiter nicht mehr an diese Bank denken?

Verstehst du was ich meine? Mit unserem Aufeinander treffen hat sich für dich ein Bild von Bonn entwickelt, dass es nie anders gegeben hätte. Du würdest im Sonnenuntergang hinter den Häusern kein Wolkenkino sehen, nicht an all die Abende denken, die wir unerlaubt auf dem Dach saßen. Du hättest im Anblick des Sonnenuntergang ganz andere Erinnerungen als unsere. 

Und ich erst. Könnte ich mich heute noch an diese eine Bank erinnern? Oder wäre sie nur eine von vielen, die in den kleinen Parks zu Hauf stehen? Würde ich mir den Himmel anschauen, und nur einen Himmel sehen? Wäre Bonn für mich eben nur der Ort, wo ich aufgewachsen bin, oder hätte ich noch andere -schönere- Erinnerungen an diese Stadt? Was wäre, wenn ich dich nicht getroffen hätte?

Wäre mein letztes Jahr vor dem Abitur ein anderes, würde ich jetzt hier sitzen und mich vor meinen Aufgaben drücken?

Und genau so, wie dein Abitur Änderungen mit sich gezogen hat, würde auch mein Abitur etwas verändern. Wir beide wussten, dass nicht alles so bleibt, wie es war. Es war uns beiden klar, dass sich etwas verändert.

Wieso haben wir das alles tot geschwiegen? Wieso haben wir nicht einfach darüber geredet? 

Wir beide hätten einfach reden müssen, uns entscheiden, was uns wichtig ist. Ich hätte mich entscheiden müssen. Ich hätte mir klar werden müssen, dass mein Leben nicht nur aus dir besteht. Ich hätte nicht damit zögern dürfen, mich endlich zu entscheiden, was ich aus meinem Leben machen möchte. Denn, so perfekt wir auch waren, mein Leben ist noch viel mehr. 

Es ist nicht so, dass eine Beziehung beendet ist und alles verloren geht. Dahinter steckt so viel. Ich dachte, ich könnte dich vergessen. Ja. Das kann ich. Ich kann dich vergessen. Aber du bist nicht nur du. Du bist die extra Prise Salz, weil das Essen so besser schmeckt. Du bist mein Jahresplaner, den ich bei dir abgeschaut habe. Du bist mein Regenmantel, den wir zusammen gekauft haben. Du bist meine Besteckschublade, die so sortiert ist, wie die bei euch zu Hause. Du bist die linke Seite meines Bettes, die immer frei liegt, weil du gerne auf mein Bett gesprungen bist. Du bist das geschlossene Fenster im Sommer und das offene Fenster bei Regen. Du bist die Zahnpasta, die so viel besser schmeckt, als meine Alte. Du bist das Prinzip, das Ziel, der Weg, weil alles irgendwie anders ist als vorher. Du hast dich in alle Fugen meines Lebens geschlichen und wenn ich dich vergessen soll, kann ich zwar deine Person verdrängen, aber da sind tausend Dinge, die das unmöglich machen unsere Zeit zu vergessen.

Mein Lebensweg lag schon fest. Ud dann kamst du, und ich wollte meinen alten Weg gar nicht mehr gehen. Ich wollte irgend etwas finden, wo du rein passt. 

Ich habe mir mit 15 versprochen, einfach wegzugehen, sobald ich 18 bin. Einfach raus und nie wieder zurück. Nicht an den Ort, in die Stadt, in der alles schief lief. 

Aber dann kamst du. Und Bonn war mehr als nur ein Ort der traurigen Erinnerungen. Da warst du. Und all deine Liebe. All deine Küsse. Unsere Bank und unser Dach. 

Bonn war nicht der Ort, der mich nur an alles schlechte erinnerte. 

Erinnerst du dich noch ans Wolkenkino? An den Abend, an dem wir zum ersten Mal auf dem Dach saßen. Und dann lagen wir plötzlich auf dem Rücken und schauten in die Wolken. Und ich habe dir erklärt, wie man Filme in den Wolken schauen kann. Ich habe dir den Hund gezeigt, der einem Reh auf einer Wiese hinterher gejagt hat. 

Wie würdest du ihn nennen?

Den Hund meinte ich.  Wie würdest du den Hund nennen? 

Erinnerst du dich an seinen Namen?

Und plötzlich war ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich nicht doch in Bonn bleiben möchte; ob nicht auch eine Person mein Neuanfang sein kann. Aber es war zu spät, Molly. Ich hatte Pläne und Ziele und Bonn war nie ein Teil dieser Ziele. Bonn konnte nicht mein Zuhause sein. 

Bonn war nie mein Zuhause. Zuerst war es meine Mutter. Dann war ich plötzlich alleine, und keiner hat sich darum gekümmert, dass die kleine Hedda ein Zuhause hatte. Kein Schlafplatz. Ein richtiges Zuhause, mit Liebe und Geborgenheit. 

Bei dir bin ich Zuhause. Oder war es. Bis zu diesem Tag.

Molly, mein Abschluss sollte kein Abschluss für uns sein. Es sollte ein Schulabschluss sein. Keine Trennung. Ich wollte nicht, dass das etwas für uns ändert. Aber es kann nicht alles gleich bleiben und egal wie sehr ich geträumt habe, es war von vorne herein klar sein, dass sich etwas ändert. 

Dich nicht darein einzuweihen war falsch. Du hättest die erste sein müssen, die von meinen Plänen erfährt. Ich hätte nicht mit Jonas reden sollen. Ich hätte mit dir reden müssen. Dir sagen müssen, dass ich nicht in Bonn bleiben kann. Mit dir zusammen einen Weg finden. 

Ich hätte dich fragen müssen, weil jedes neue Augenpaar ein ganz anderes Licht auf die Situation wirft. Und vielleicht hättest du genau das richtige Licht eingeschaltet. Vielleicht, wäre es sehr viel einfacher gewesen, hätte ich mit dir geredet, bevor alles fest stand.

Wie hättest du reagiert? Wärst du böse gewesen? Hättest du Schluss gemacht?

Molly, ich sage es jetzt, obwohl ich es vor einem Jahr hätte sagen müssen: 

"Ich gehe weg aus Bonn. Ich kann hier nicht bleiben!"


Deine Hedda.


Dear Molly | Remember?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt