Prolog

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TEIL 1

Sie holten mich an meinem sechsten Geburtstag. Ich erinnere mich noch an die flimmernden Sonnenstrahlen, die meine Haut erwärmten. Ich hatte friedlich auf der kleinen Rasenecke hinter dem Haus gestanden. Dann kamen die Soldaten. Zwei an der Zahl stürmten durch die Terassentür und packten mich grob an den Armen. Sie waren mir damals unfassbar groß und mächtig erschienen. Ich schrie nicht, ich weinte nicht. Das hatte mir der Vater befohlen: keine Gegenwehr. Keine Schande machen. Und trotzdem quetschten sie mir die Arme. Noch Tage später erinnerten mich zwei blaugrüne Flecken an ihre Gewalt.

Ich hätte gerne noch ein letztes Mal die Mutter gesehen, doch sie hatte sich unwidrig verhalten und musste am Tag meiner Abreise ihre Strafe absitzen. Der Vater war in den letzten Wochen immer strenger zu ihr, wahrscheinlich würde sie bald dem Schicksal seiner früheren Frauen folgen.

Also ging ich, den Kopf gesenkt und von zwei Soldaten flankiert den steinernen Weg zum Mobil, das mich ans andere Ende des Reichs in mein neues Zuhause bringen würde.

Während der Fahrt drückte ich meine Nase an die getönten Scheiben des Wagens und versuchte, die Soldaten so gut wie möglich zu ignorieren. Sie machten mir Angst mit ihren grimmigen Blicken, den zu feinen Linien gepressten Mündern und den schwarzen Gewehren, die bedrohlich an ihrer Hüfte hingen.

Die Straßen, die wir durchfuhren, waren still und fast ausnahmslos leer. Nur vereinzelt sah ich Frauen, die in ihren langen Gewändern über den Boden huschten. Sie alle hatten den Blick gesenkt und als sie unser Fahrzeug hörten, verschwanden sie demütig im Schatten der Gebäude.

Wir befanden uns relativ nahe an den hohen Mauern, die das Reich von der wilden Natur abgrenzten. Die Häuser, die hier standen, waren klein aber hübsch. Das Gras der Vorgärten war ordentlich getrimmt und die Fassaden der gelben, blauen und grauen Häuser strahlten wie frisch gestrichen.

Wir fuhren immer weiter von meiner Vergangenheit weg und mit jedem Meter, den ich mich rasant der Zukunft näherte, wuchs meine Angst. Ich wusste nicht, was mich erwartete, doch ahnte ich, dass meine Kindheit in dem Moment aufgehört hatte, indem die Soldaten in mein Leben eingedrungen waren.

Das Automobil hielt vor einem großen weißen Gebäude. Wir waren an Schule angekommen. Hohe Stacheldrahtzäune umringen den hellen Betonklotz und warnten mich vor Dummheiten. Die Soldaten zerrten mich den steinernen Weg zum breiten Eingang. Die Türen öffneten sich lautlos und ein Geruch der Angst und des Peins schlug mir entgegen. Ich wurde von einer Frau in einem langen schwarzen Gewand, das jeden Zentimeter ihres guternährten Körpers bedeckte, empfangen. Dann verschwanden die Soldaten. Als die Tür sich schloss und mich vom strahlenden Sonnenlicht abschnitt, wusste ich, dass es kein Zurück mehr gab.

(UN)SCHULDWhere stories live. Discover now