Kapitel 3 - A L L I E

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Früher habe ich diese 'Besuche' immer vor mir her geschoben. Mittlerweile ziehe ich sie einfach durch. Sonst muss ich sowieso daran denken. Ich muss es einfach durchziehen, auch wenn mich jedes Mal kränkt.

Seufzend sperre ich die Tür auf und trage die drei Taschen die Stufen nach oben. Hier sieht es noch schlimmer aus als in meiner Wohnung und das heißt schon was. Aber das hat auch seinen Grund. In meiner Gegend ist niemand freiwillig dort. Jeder will es raus schaffen. Hier nicht. Den Menschen ist es einfach egal, oder sie haben sich schon lange damit abgefunden. Mum gehört zur ersten Gruppe.
Ihre Wohnungstüre steht weit offen. Auch hier mache ich mir mittlerweile keine Sorgen mehr. Mum vergisst immer abzuschließen, was in dieser Gegend eigentlich sehr fahrlässig ist, aber was soll's.

„Hi Mum." Ich gehe direkt in die Küche und sehe gar nicht erst ins Wohnzimmer. Das muss ich noch früh genug beim Putzen sehen. Die Einkäufe stelle ich einfach auf die Ablage. Ich muss mir die Mühe gar nicht machen sie einzuräumen. Dann findet Mum sie sowieso nicht und ich muss die verschimmelten Lebensmittel wegwerfen.

Sie ignoriert mich, oder bemerkt mich nicht. Keine Ahnung, aber mittlerweile bin ich froh so schnell wieder raus zu sein wie es geht. Sie redet nicht und auch das habe ich aufgegeben. Wenn sie nicht will, dann mache ich mir nicht weiter die Mühe. Ich habe genug andere Sorgen.

Sie liegt wie immer auf dem Sofa. Als erstes stoße ich die Fenster auf und sauge die frische Luft ein. Den muffigen, stickigen Geruch bekommt man nicht mehr aus der Wohnung und ich habe den starken Verdacht, dass Mum nicht lüftet, was heißt das nur einmal die Woche gelüftet wird. Und was soll man da sagen. Man kann es nicht beschönigen. Es stinkt einfach. Vor allem, wenn ihr 'Freund' noch da war und sie eine Party geschmissen haben. Ich will gar nicht wissen, was die Beiden da nehmen. Einmal bin ich hinein geplatzt und wurde wieder hinaus geschmissen. Mum hat nur gekichert als er mich geschlagen hat und ich die Flucht ergriffen habe. Seit dem gehe ich diesem Typen aus dem Weg und komme nur früh morgens.

Mum liegt schlafend auf dem Sofa. Vorsichtshalber überprüfe ich, ob sie noch Puls hat. Er schlägt seit langem Mal wieder etwas kräftiger. Eine nette Überraschung zwischen durch. Ich richte mich wieder auf und mache mich daran aufzuräumen. In einer Woche staut sich ein Haufen an, aber ich will nicht öfters kommen. Auf gar keinen Fall.

Erst räume ich den Tisch ab und dann den überfüllten Boden. Lecker...nicht!

Ich habe mich angewöhnt bei dieser Arbeit einfach stumm und stumpf zu sein. Nicht weiter darüber nachdenken was ich da alles anfasse. Früher habe ich Musik angemacht oder das Radio angeschaltet. Vor allem für mich zur Ablenkung und die gute Laune nicht zu verlieren und auch ein bisschen für Mum, damit sie aus ihrem Stumpfsein auftaucht und mal wieder Leben in ihren Blick kommt.

Tja das ist auch Geschichte, seit sie mich zweimal deswegen angegriffen hat und ich die Kratzspuren noch Tage später auf dem Arm hatte. Sie hat geschrien wie am Spieß und war vollkommen wild. Die Lautstärke hat sie offenbar gestört und irgendwann die Musik an sich. Als würde alle Fröhlichkeit oder Lebenslust, auch wenn sie nur aus einer Blechkiste kommt, ihr einen Ausschlag bereiten oder ihr sogar körperliche Schmerzen bereiten.

Eine Stunde später bin ich fertig. Ich mache mir nicht einmal die Mühe mich zu verabschieden. Mum schläft sowieso noch und bemerkt meine Anstrengungen noch nicht einmal. Das einzige, was sie tut, ist mein Geld zu verschlingen.

Jedes Mal, wenn ich nach diesen Besuchen wieder nach Hause gehe, versuche ich alles abzuschütteln, aber selbst mir ist aufgefallen das meine Fröhlichkeit abhanden gekommen ist.

Früher habe ich immer gelacht und das Glück angezogen. Ich fühle mich nur noch in Ellas und wenn ich es mir eingestehen würde auch in Finns Nähe wieder wie die Alte. Vielleicht ist das der Grund warum ich ihn nicht loslassen kann, denn ein selbstsüchtiger Teil klammert sich an ihn. Er tut mir gut. Aber ich will seine Freude nicht aufsaugen, denn ich würde nichts übrig lassen. Ich könnte gar nichts dagegen tun und würde es wahrscheinlich viel zu spät merken. So war es bei Mum und ich bin nicht so dumm anzunehmen das ich anders bin.

Seufzend zwinge ich mich aufzusehen und aufrechter zu gehen. Ich klammere mich an meine Stärke und gehe weiter.

Zu Hause schließe ich die Augen und starre an die Decke. Das, was ich am meisten vermisse, sind die Farben und die Bilder. Früher konnte ich sie noch nicht einmal alle aufschreiben so viel war in meinem Kopf. Jetzt reicht es gerade mal für ein paar Bildern. Unter der Dusche, oder wenn ich mal abschalten kann, ist es fast wie früher und ich genieße diese Augenblicke so sehr. In diesen Momenten kann ich lachen und gehe vollkommen in meiner Kreativität auf. Ich bin voll drin und vergesse alles um mich herum. Sogar all meine vielen Problemen. Wie zum Beispiel die Besuche bei meiner Mum, die mich schlauchen, oder mein Konto das sich langsam dem Ende neigt. Obwohl ich einen gut bezahlten Job als Marketing-Angestellte habe, kellnere und meine Bilder verkaufe, reicht es bald nicht mehr. Nicht wenn ich meine, Mums Miete und Lebensunterhalt zahlen muss. Dazu kommen die Ausgaben für Dad.

Er ist krank. Zu ihm bin ich immer gern gegangen. Er war für meine Hilfe wenigstens dankbar und hat mich zum Lachen gebracht. Aber der Krebs zehrt ihn aus. Mittlerweile lebt er im Krankenhaus und das ist teuer, aber für ihn gebe ich gern alles. Ihn besuche ich auch jede Woche. Da muss ich aber sechs Kilometer laufen, denn der Bus ist auf lange Sicht teuer und das Geld spare ich lieber für seine Behandlungen.

Gut genug von diesen trübsinnigen Gedanken. Ich muss mich wieder aufraffen! Ich schließe die Augen und suche nach einer Idee. Ein paar Minuten später stehe ich auf und suche Inspiration in meinen vielen Skizzenbüchern. Bald werde ich fündig und drehe die Musik laut auf. Dann mache ich mich daran die richtigen Pinsel zusammenzusuchen und die Farben zu mischen.

Ich habe mich für einen üppigen Baum entschieden. Ein einfaches Motiv, aber die vertrauten Striche werden meine Gedanken sicher zur Ruhe bringen und dann kann ich mich wieder schwereren Motiven widmen.

Sobald ich die Bleistiftskizze fertig habe mache ich mich daran die satten Farben auf die Leinwand zu bringen. Die Musik wird sanfter und langsam weicht die Unruhe in meinem Inneren, die mich nach jeden Besuch befällt. Ich verdränge alles und gehe in meiner Arbeit auf.

Ich mag meinen Beruf als Marketing-Assistentin. In ihm kann ich auch kreativ sein, doch das Malen erfüllt mich. Das ist es, was ich bin und was ich gern tue. Es hilft mir und macht mich glücklich. Immer. Selbst jetzt. Meine Bilder bedeuten mir viel und alle male ich mit Leidenschaft und mit Freude. Sobald ich den Pinsel in der Hand habe bin ich ich. Dann bin ich in meinem Element.

Als kleines Kind wollte ich Künstlerin werden und es freut mich, dass ich das trotz dieser Situation sein kann. Zwar nicht so intensiv wie ich es mir damals vorgestellt habe, aber ich bin Künstlerin. Ich verkaufe meine Bilder in der Galerie an der Kirche. Sie gehört einem Freund, Nat, der mich seit jeher unterstützt. Selbst diese Bilder, wie das, das ich gerade male und nur für mich sind, kauft er, wenn ich das Geld brauche. Ich weiß das diese sich schlechter verkaufen, doch irgendwer kauft sie trotzdem. Anfangs hat mich das gewundert, doch Nat sagt, dass viele Menschen die Einfachheit schätzen und von einem Bild nicht erschlagen werden wollen. Offenbar wollen doch viele einfach schöne Bilder, die man einfach betrachten kann und in die man nichts rein interpretieren muss.

Ich schätze beide Kategorien und male auch beide. Je nachdem wie ich mich fühle.

Oft male ich auch nach Wunsch der Kunden. Nat gibt mir ein Zettel mit Notizen. An den Plan muss ich mich halten, doch wie ich es umsetze ist meine Sache. Es ist eine schöne Abwechslung. Früher dachte ich das macht den kreativen Prozess zunichte, doch man kann trotzdem noch seinen eigenen Touch rein bekommen.

Ich drehe die Musik lauter und versinke in meiner Malerei. Zum ersten Mal an diesem Tag stiehlt sich ein Lächeln in mein Gesicht.

Quarterbackgirl Where stories live. Discover now