47 - Frühling

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Avelines Füsse flogen über den Boden. Sie rannte von Lokis Hütte zurück zum Hof, so schnell, wie ihre Beine sie tragen konnten. Ihr grünes Leinenkleid zog sie sich mit beiden Händen über die Knie, damit sie nicht strauchelte. Ihre Muskeln ächzten, ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Der Atem raste. Noch nie war sie so schnell in ihrem Leben gerannt. Ihre zerstörten Fusssohlen spürte sie nicht, denn der entsetzliche Schmerz in ihrer Seele betäubte alles.

Ihr Herz blutete.

Sie rannte den Weg zum Hof hinauf. Die Steine stachen in ihren nackten Sohlen, aber sie fühlte es kaum. Es galt keine Zeit zu verlieren. Viel zu lange hatte sie gewartet. Viel zu lange war sie blind gewesen.

Sie stiess die schwere Eingangstür zum Wohnhaus auf und stürzte in ihre kleine Kammer. Mit hastigen Griffen packte sie den schwarzen Umhang mit Kapuze, den ihr Salka gegeben hatte und ihren Dolch. Tränen brannten in ihren Augen. Sie wischte sich die heissen Tropfen von der Wange, dann stolperte sie in die Küche. Der Schock steckte noch tief in ihren Knochen. So tief. So entsetzlich tief. 

Sie begann zu zittern, als sie ein paar Äpfel packte und einen Lederbeutel mit Wasser füllte.

„Aveline?", hörte sie plötzlich Rurik sprechen.

Sie wirbelte herum. Der Lederbeutel fiel ihr vor Erschrecken aus den Händen. Er stand im Eingang und blickte sie fragend an.

War er nicht noch gerade eben in der Versammlungshalle gewesen, weil Ragnar mit ihm hatte sprechen wollen?

Was?", fauchte sie ihn an.

„Was machst du?"

„Ich gehe!"

Er blickte sie verwirrt an und kam näher. Die Axt an seinem Gurt blitzte im fahlen Licht. „Warum denn?"

Aveline strauchelte rückwärts und streckte die Hand aus, um ihn zu stoppen. „Bleib wo du bist! Komm mir nicht näher!", schrie sie.

Er blieb abrupt stehen. „Was ist denn?", fragte er.

Die Art, wie er die Frage stellte, liess vermuten, dass er nicht ahnte, was vor sich ging. Die Wut brannte in ihrem Hals. Sie wollte ihn anschreien, ihn schlagen. Sie wollte ihm das Herz aus der Brust reissen. Sie hasste ihn so!

„Ich weiss alles!", schrie sie schrill.

Sie packte ein abgebrochenes Stück Brot, getrocknetes Fleisch und zwei Karotten in ihren Jutesack und ging um die Feuerstelle herum. Sie wollte es absolut vermeiden, ihm jemals wieder nahezukommen. Er war nicht mehr der Mann, den sie ihn ihm gesehen hatte. Er war ein Biest. 

Sie tigerte umher, denn er versperrte ihr den Ausgang.

Er hob seine Hände vor den Körper, als wolle er sie damit besänftigen. „Was weisst du? Aveline, ich verstehe nicht. Wovon sprichst du?"

„Ich war bei Loki", spuckte sie aus. „Er hat mir alles erzählt! Du warst es. Ihr wart es!" Das Stechen in ihrer Brust wurde unerträglich und sie brüllte auf. „Ich kann nicht hier bleiben! Ich muss hier weg. Ich hasse diesen Ort!"

Sie spürte, dass sie die Fassung verlor. Wenn sie ihm noch länger in die Augen blicken musste, würde sie kotzen müssen. Ihr war vor Wut übel geworden. 

Rurik kam auf sie zu, sie wich ihm jedoch aus.

„Ich habe gesagt, komm mir nicht näher!"

Er blieb neben der Feuerstelle stehen. Ratlos. Das Feuer zwischen ihnen glimmte sanft.

Er senkte seine Arme. „Aveline, was hat Loki dir erzählt? Bitte sag es mir. Ich will verstehen, warum du so wütend bist."

Sie zitterte am ganzen Leib und umklammerte den Jutesack mit beiden Händen. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht und tropften auf den rauen Stoff.

PlünderungDonde viven las historias. Descúbrelo ahora