-𝕊𝕚𝕩𝕥𝕖𝕖𝕟-

145 21 128
                                    

Point of view Tristan

Carter hatte das nicht verdient.

Er ist so ein netter Junge und dann kommt sein Onkel und macht alles kaputt.

So wie er eigentlich immer alles kaputt macht; die Beziehung zu Maryse, die Beziehung zu seinem Neffen – eigentlich die Beziehung zur gesamten Menschheit.

Zur Erklärung: Nachdem Victor uns beim Knutschen erwischt hat, konnten wir uns einen zehnminütigen, ziemlich homophoben Monolog anhören.

Oder hätten uns anhören müssen. Nach zwei Sätzen hat es mir gereicht und ich bin aufgestanden.

"Sie sollten stolz darauf sein, einen so tollen Neffen zu haben, statt ihn für etwas zu rügen, für das er nicht mal im Ansatz etwas kann.

Sie sollten sich für ihn freuen, sich freuen, dass er glücklich ist und nicht ständig allein herumhängen muss.

Haben Sie auch nur eine Ahnung, wie sehr es ihn verletzt, dass Sie ihn eigentlich gar nicht kennen? Er würde es niemals zugeben, aber das tut es und ich finde es wirklich traurig, dass Sie das nicht einmal bemerken.

Sie wissen nicht, wer er ist, wissen nicht, wie er liebt, wie er denkt. Sie verstehen ihn nicht, aber wollen ihm jetzt auch verbieten, bei den Menschen zu sein, die es tun?

Sie sind ein Unmensch! Ein homophobes Arschloch und es ist mir egal, was Sie jetzt von mir halten. Carter und ich werden nicht damit aufhören, das zu tun, was wir nun mal tun, nur weil Sie daherkommen und der Meinung sind, alles zerstören zu müssen."

Die Tür hat sich während meiner Rede erneut geöffnet und Carters Tante ist hereingekommen.

"Danke, Tristan, dass du endlich das gesagt hast, was jemand schon lange hätte sagen müssen. Victor, ein solches Verhalten und eine solche Denkweise unterstütze oder toleriere ich weder noch dulde ich sie. Du kannst dir ein Hotel suchen.

Oder am besten eine Wohnung, denn du wirst ausziehen. Es gab schon so viele Gründe, angefangen mit der Sache mit Julia, über die Art und Weise wie du mit Carter redest, bis hin zu deinem mangelnden Trieb der Vernunft. Pack' deine Sachen und verschwinde, ich will, dass du bis morgen Abend alles weg hast."

Anfangs hat die große, dunkelhaarige Frau noch gebrüllt, doch zum Ende hin wurde ihre Stimme leiser und schwacher, bis sie letztlich auf Carters Schreibtischstuhl zusammenbricht, die Hände über die Schläfen reibend.

Ich will zu ihr gehen und ihr helfen, aber dann denke ich an Carter und daran, wie es ihm jetzt wohl geht.

Also drehe ich mich zu ihm um.

Ich dachte, seit ich ihn kenne, dass Carter jegliche Emotionen vor allen anderen versteckt hält. Nur selten sieht man ihn lachen, noch seltener auch nur grinsen.

Deshalb ist es wahrscheinlich so schockierend für mich, ihn jetzt weinend zu sehen. Er schluchzt nicht, sondern ihm laufen stumme Tränen über die Wangen und machen seinen Hals und sein graues Shirt nass.

Er starrt ins Nichts und ich bin nicht einmal sicher, ob er noch atmet, geschweige denn mitbekommt, dass eine Welt außerhalb seiner Gedanken existiert, weshalb ich auf das Bett zustürme. Vielleicht bekommt er auch gar nicht mit, dass er weint und sein Körper hat einfach seine Reaktion übernommen.

"Carter?" Er wimmert und ich ziehe ihn an meine Brust. Er ist nicht viel kleiner als ich, aber schwächer und leichter auf jeden Fall.

Sein gesamter Rücken beginnt regelrecht zu vibrieren und ich bin komplett überfordert mit der Situation. Irgendwie habe ich nämlich das Gefühl, dass diese Tränen schon lange fällig waren. Viel zu lange.

Nobody | ✓Where stories live. Discover now