Die Begegnung mit der Zukunft (Teil II) - 2006

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Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen durch die engen Gassen des Altstadtviertels, in dem Edwin seine temporäre Residenz bezogen hatte. Das Hotel, in dem er eine Suite gemietet hatte, befand sich in zentraler Lage, das Hotelzimmer hatte eine gekühlte Minibar und das Personal stellte keine Fragen; es gab demnach keinen Grund für den Vampir unzufrieden zu sein. Nichtsdestotrotz verspürte er auch an diesem Morgen eine unerklärliche Unruhe bei dem Gedanken, seine Zeit auf diesen luxuriösen 24 Quadratmetern zu verbringen.

Es muss an der Zeit sein, überlegte Edwin, der bereits aus seinem schwarzen Morgenmantel und in frische Kleidung geschlüpft war. Ich muss trinken. Dass das unbestimmte Gefühl in seiner Brust nichts mit dem Verlangen nach einer offenen Kehle zu tun hatte, verdrängte er gekonnt.

Mit den Füßen angelte er ohne Eile nach den ledernen Schnürschuhen, die ihm seit geraumer Zeit einen guten Dienst erwiesen und den Besuch bei einem Schuhmacher dringend nötig hatten. Der Gedanke an die bevorstehende Jagd regte ihn nicht auf. Edwin hatte lange genug gelebt, um zu wissen, wo man frisches Blut ohne großes Drama fand, wenn man es brauchte und die richtigen Beziehungen hatte. Besonders im 21. Jahrhundert war es ein Leichtes geworden, die Träume und Fantasien der Menschen auszunutzen, um an ihr Blut zu gelangen. Online wie offline sammelten sich die verwirrten Schäfchen, die in der menschlichen Gesellschaft keine Ruhe fanden, um jeden, der ihnen mehr versprach. Mehr Zeit, mehr Stärke, mehr Macht. Im Austausch dafür verlangten die selbstlosen Unsterblichen der digitalen Ära nur ein kleines Opfer.

Summend hatte er das lockere Hemd an seinen Handgelenken zugeknöpft und nach der Weste seines Dreiteilers gegriffen, nun jedoch erstarb seine Melodie. Seine gute Laune nährte das Gefühl von Unruhe, das seit einiger Zeit einen ständigen Begleiter darstellte. Edwins Blick richtete sich auf das blasse Spiegelbild, das ihm entgegensah, und er runzelte die Stirn. Ihm fiel durchaus ein Grund für seine Hochstimmung ein, doch den wollte er nicht wahrhaben. Gerade hatte er sich damit abgefunden, seine Bindungen zur Menschenwelt vollständig gelöst zu haben und da tauchte Youri in seinem Leben auf.

Ich wusste es vom ersten Augenblick an, dachte Edwin grimmig, dass ich dieses rothaarige Mädchen niemals begleiten hätte sollen. Menschen sorgen bloß für Komplikationen.

Mit einem tiefen Seufzen richtete der Vampir das Outfit, dessen unterschwellige Eleganz in dem Fünf-Sterne-Hotel nicht auffallen würde; je weiter ihn sein Weg in die düsteren Seitengassen der Stadt führte, desto unpassender wirkte es jedoch. Tatsächlich erhielt Edwin einige neugierige Blicke auf seinem Weg zu der Kellerbar, um die er sich nicht weiter kümmerte. Er hatte kein Problem damit Aufmerksamkeit zu erregen, und solange die Menschen sich den Kopf über seine Kleidung zerbrachen, dachten sie wenigstens nicht über seine Identität nach.

Die Kälte der Nachtluft störte ihn ebenso wenig auf seinem Weg durch die Dunkelheit. Im Gegenteil, je kälter es war, desto wohler fühlte der Vampir sich in letzter Zeit. Er stellte sich vor wie er eins wurde mit den Schatten, seine Gefühle und Gedanken mit seinem letzten Atemzug in das schwarze Nichts vor sich flossen und endgültig verschwanden. Wie dunkle Wellen würden sie hinter ihm zusammenschlagen und jeden hinterbliebenen Hinweis auf seine Existenz verschlucken.

Das wird niemals passieren. Dafür bin ich viel zu vorsichtig, stellte Edwin mit bittersüßer Sicherheit fest, als sich vor ihm endlich das gesuchte Lokal auftat.

Weder das Äußere, noch das Innere des Lokals stellten eine Überraschung für den Vampir dar. Kosteneffizienz und das Verlangen nach einem gediegenen Interieur trafen aufeinander und boten einen Anblick, der einem Autounfall gleichkam. Billiger roter Samt überzog gut ein Drittel des Ladens, der, von flackernden Buntglas-Lampen beleuchtet, in tanzende Schatten gehüllt war. Darin tummelte sich ein kurioser Mix an Menschen jeglichen Alters und Geschlechts. An Orten wie diesen wurde nicht nach Ausweisen oder Hintergründen gefragt, das bedeutete, dass Edwin gewohnheitsmäßig vorsichtig vorging. Er spürte einige Blicke sich heben, als er den Raum betrat, lauernd, erwartungsvoll. Erst als der Vampir sich, ohne jemanden anzusehen, an die Bar gesetzt und den Barkeeper um einen simplen Gin Tonic gebeten hatte, verlief sich die Aufmerksamkeit, die er verursacht hatte. Er hätte seine Tarnung verbessern können, indem er den altmodischen Anzug gegen ein Paar Sneaker und ein T-Shirt, wie Youri es bei ihrem ersten Treffen getragen hatte, ausgetauscht hätte. Aber Edwin wollte sich nicht verstecken, denn sobald er ein passendes Opfer gefunden hatte, würde er in seiner eigenen Kleidung viel eher ans Ziel kommen. Die Menschen, die eine Bar wie diese besuchten, waren weder Fans des Barkeepers, noch auf ein gemütliches Bier bei einem Fußballspiel im Fernsehen aus.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 12, 2020 ⏰

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Edwin NocturneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt