Kapitel 1 - August 2017

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„Find a little light and hold it close, don't lose sight of what matters most" – Architects

Jemand sagte mal, der Sinn des Lebens sei das Leben an sich. Das ist eine waghalsige Behauptung, betrachtet man den Fakt, dass das Leben nur aus chemischen, biologischen und physikalischen Prozessen besteht. Keine Chemie, keine Denkprozesse, Gefühle, kein Bewusstsein. Lässt man die Biologie weg, würde sich der erste Einzeller nie weiterentwickelt und Fortgepflanzt haben. Ohne die Physik hätte sich womöglich nie unser Universum gebildet, schon gar nicht so, wie wir es heute versuchen zu entschlüsseln. Wie kann der Sinn eines, aus Naturwissenschaften geschaffenen, Wesens die bloße Existenz sein?
Und überhaupt, warum sucht der Mensch seit seiner Bewusstseinsentwicklung nach einer tieferen Bedeutung? Sollte man nicht davon ausgehen, dass wenn seit dem 6. Jahrhundert vor Christus Philosophen sich die gleiche Frage stellen und bisher nicht mal der Ansatz einer Lösung gefunden wurde, es vielleicht keinen Sinn gibt?
Nein, natürlich wird dann weiter gesucht um am Ende zu behaupten, jeder Mensch muss seinen Zweck selbst finden. Aber ich stelle die These auf, dass eben nicht alles eine Bedeutung hat. Ich will nicht mein Leben verschwenden, um Antworten zu suchen, die wahrscheinlich nicht mal existieren. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre gläubig aufgewachsen, könnte mir meine Fragen mit einer höheren Macht beantworten, nicht weiter darüber nachdenken. Denn wenn dann was Schlimmes passiert und mir gesagt wird „Gott gibt uns nur so viel, wie wir tragen können", dann würde ich das glauben. Als Vollzeit-Atheist ist das nicht so einfach.
Je höher der IQ eines Menschen ist, desto mehr denkt er nach. Nach dieser Logik wäre ich vermutlich hochbegabt, denn ich tue den ganzen Tag nichts als Nachdenken, über jeden Müll. Wenn ich dann eine Pause von den emotionalen Problemen in meinem Kopf möchte, flüchte ich mich in eine andere Welt. Entweder vergrabe ich mich in einem guten Fantasy Buch, schleiche durch die Gänge von Hogwarts oder ich stecke meine Kopfhörer in meine Ohren, stelle die Musik ganz laut und schalte die Welt um mich herum aus. Denn eigentlich habe ich ja keine Probleme, mein Leben läuft so gut, wie es für eine 16 Jährige Teenagerin eben laufen kann. Ich schätze, ich habe eine große Vorliebe für Drama und bin ein wenig zu irrational, ein wenig zu kindisch für die Menschen in meinem Alter, ein wenig zu empfindlich.

Letztendlich reißt mein Wecker mich aus meinen Gedanken. Fast schon mechanisch drücke ich zum dritten Mal auf die Schlummer-Taste. Ich muss mir echt mehr Selbstdisziplin antrainieren – oder lernen, dass ich eben zu wenig Schlaf bekomme, wenn ich bis um 2 Uhr wach bin. Jedoch ist das ja nicht grundlos – geht es meiner Schwester, die bei meinem Vater wohnt, schlecht, dann bin ich für sie da, zu jeder Zeit.
Mit dem Gedanken angle ich mein Handy von meinem Nachttisch und checke, ob es neue Nachrichten gibt. Marlene hat mir nach unserem Telefonat nochmal einen Text geschrieben und sich bedankt, dass ich ihr zugehört habe. Sie verspricht, dass wir uns bald wiedersehen, was ich mir natürlich mehr als alles andere wünsche. Leider wohnt sie ungefähr 250 Kilometer von meiner Stadt entfernt in einem kleinen Dorf. Ich war schon oft dort, ich vermisste die Landluft, die Ruhe und die Abgelegenheit. Man muss einfach nicht immer erreichbar sein, kann einfach besser abschalten wenn man das mal braucht. Andererseits bin ich froh, nicht dort zu wohnen. Ich kann verstehen, warum man sich dort oft einsam fühlt. Hier steige ich in den nächsten Bus ein, der jede halbe Stunde kommt, und stehe nach 10 Minuten auf dem Markt.
Apropos Bus.
Mein Blick fällt auf meinen Wecker. 06:34 Uhr. Fluchend stehe ich auf und frage mich, warum mein Wecker nicht nochmal geklingelt hat. Mein Kleiderschrank bietet mir auch nichts Neues an, also greife ich mir ein grünes T-Shirt mit einer schwarzen Hose. In Lichtgeschwindigkeit putze ich Zähne, kämme meine dunkelbraunen, langen Haare und überlege kurz, ob ich sie nicht einfach abschneiden sollte.
Statt zu duschen, muss heute nur mein Deo reichen.
Knapp 15 Minuten später stolpere ich aus unserer Wohnung, greife mir vorher noch einen Apfel für die Schule. Gerade als die Tür hinter mir zufällt, sehe ich in meinem Kopf noch den Wohnungsschlüssel auf dem Küchentisch liegen. Neben Selbstdisziplin und einem gesunden Schlafrhythmus brauche ich dringend mehr Eigenverantwortung – spätestens jetzt sollte sich das langsam entwickeln, wenn ich nun schon seit meinem Geburtstag letzte Woche leichten Alkohol kaufen kann. In Gedanken mache ich mir eine Notiz, wohlwissend, dass ich es trotzdem vergessen werde.
Ich atme, genervt von mir selbst, tief aus und setze dann zügig meinen Weg zur 200m entfernten Bushaltestelle fort. Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass ich noch halbwegs pünktlich bin, also verlangsame ich meinen Schritt etwas und fange an, meine Kopfhörer zu entwirren, die sich jedes Mal, wenn sie in einer Tasche landen, verknoten, selbst wenn ich nichts tue und sie einfach nur existieren. Vielleicht liegt das daran, dass ich sie nicht beobachte. Das wären dann Schrödingers Kopfhörer. Oder jedenfalls so ähnlich, Physik ist nicht so mein Ding. Mathe auch nicht. Deutsch eigentlich auch nicht. Schule ist allgemein nicht so meins. Ich werde mein Leben lang auf den Tag warten, in der ich in meiner eigenen Buchhandlung sitze und mir denke „Puh, ist das nützlich, jetzt den Kosinussatz anwenden zu können" oder „Zum Glück habe ich damals im Sportunterricht so oft Kugelstoßen gehabt".
Ich stecke das eine Ende der Kopfhörer in mein Handy, das andere in meine Ohren. Haben Kopfhörer eigentlich drei Enden? Realistisch betrachtet? Oder ist das eine davon der Anfang? Oder sind das drei Anfänge?
Bevor ich mich wieder in komplett nutzlosen Fragen verliere, lasse ich mich von meiner Musik einhüllen und in eine andere Welt transportieren. Schon witzig, was uns ein paar aneinandergereihte Töne fühlen lassen. Dieses Universum und meine Existenz in diesem empfinde ich so oft als trist, düster, bedrückend. Manchmal fühle ich mich verloren in einem kalten grau – ich weiß nicht, ob das ein Gefühl ist, für mich ist es eins, ein verdammt schreckliches. Deswegen flüchte ich einfach. Warum denn auch nicht?
Ich spüre einen Windzug, sehe mich um und realisiere, dass ich schon längst an meiner Bushaltestelle stehe. Der Bus öffnet gerade seine Türen, ich schlüpfe rein und merke jetzt schon, dass dieser Tag alles andere als kühl und angenehm wird. Es ist ein Montag im Sommer, über das Datum bin ich mir mit mir selbst uneinig. Meine dritte Schulwoche für dieses Schuljahr beginnt heute. 10. Klasse, manchmal glaube ich es selbst nicht, dass ich es so weit geschafft habe. Das klingt auch schon so groß, fast schon erwachsen. Nächstes Jahr muss ich meine Mittlere Reife Prüfung ablegen und damit die Zulassung für das Abitur bekommen. Leider habe ich bei der Sache kein gutes Gefühl, allgemein fühle ich mich seit einigen Monaten seltsam – die graue Kälte schiebt sich wie eine Betonwand vor mich und versucht, mir den Weg zu sperren.
Ich schaue nachdenklich aus dem Fenster des Busses wickle meinen Haargummi, den ich Zeitweise als Armband benutze, um meine Finger, verknote, entwirre, spanne, wickle ihn dann wieder um meinen Zeigefinger und meinen Mittelfinger und lasse ihn dann wieder runterrollen. Ich fühle mich seltsam, mein Kopf fängt an mit kribbeln, mir ist schlecht, nein, kotzübel, nein, irgendwie doch nicht. Ich atme tief durch und versuche, meine Gedanken in den Griff zu bekommen, die gerade eine Achterbahn starten. Ich denke an die Hausaufgaben, die zu Heute auf waren, die ich nur halbherzig gemacht habe und die Arbeit, die wir in der dritten Stunde in Biologie schreiben, für die ich definitiv zu wenig gelernt habe. Ich werde dieses Jahr vermutlich nicht schaffen, werde versagen, werde von der Schule fliegen, keine Ausbildung machen, keinen Beruf bekommen, scheitern, unter einer Brücke wohnen, dort sterben und dann wird meine Leiche von hungrigen Streunerkatzen angefressen.
Plötzlich reißt mein Gummi, den ich scheinbar zu viel strapazierte, und fliegt durch den ganzen Bus um dann im Gesicht einer alten Frau zu landen, welche natürlich sofort reagiert. Mit ihren finsteren Augen durchsucht sie den ganzen Bus nach einem Täter, woraufhin ich natürlich meinen unschuldigsten Blick aufsetze, während ich so tue, als würde ich aus dem Fenster schauen. Dort erkenne ich die nächste Haltestelle an meiner Schule und betätige die Stopp-Taste. Ich entferne einen der Hörer aus meinem Ohr. Als der Bus mit quietschenden Bremsen zum Stehen kommt, ist von meiner Gedankenkette nur noch die Übelkeit als Rest übrig, so verlasse ich den Bus und lächle die Dame, die ich versehentlich attackierte, freundlich an. Diese sieht mich nur angewidert an, als wäre mein halbes Gesicht vergammelt. Für einen Moment frage ich mich, ob es an mir liegt, verwerfe es dann aber. Ich habe immerhin nichts getan, oder?
An der Haltestelle wartet schon Ben auf mich. Lächelnd kommt er auf mich zu und drückt mir einen sanften Kuss auf die Lippen, wodurch ich dieses dämliche Grinsen bekomme, was stundenlang anhält.
„Hey, Kleine", begrüßt er mich.
„Ich bin nicht klein, du bist nur groß.", erkläre ich ihm. Ich kann nun mal nichts dafür, wenn er mit seinen 1,90m (plus seine hellbraunen Steckdosen-Haaren, die, nebenbei erwähnt, richtig gut zu seinen grünen Augen passen) ein halber Riese ist.
Wir sind seit drei Monaten zusammen und ich könnte mir keinen besseren ersten Freund vorstellen. Zumal die Menschen aus meiner Klasse mich jetzt als gleichaltrige akzeptieren. Es war natürlich eine Schande, mit 15 in der 9. Klasse noch keinen Freund zu haben oder gehabt zu haben. Ich hab mir aber da echt keinen Stress gemacht. Meine Klassenkameraden sind mir ziemlich egal, ich bin sowieso mehr Außenseiter als alles andere. Wobei jetzt, wo jeder davon ausgeht, dass ich durch meine Beziehung schon Sex hatte, werde ich tatsächlich in Sport nicht mehr als letztes in ein Team gewählt. Stattdessen hat meine Stelle jetzt Pauline übernommen. Dadurch, dass sie etwas mehr Körpermasse hat und ihr Gesicht dazu noch eine Akne ziert, stehe ich jetzt in der Klassenhierarchie über ihr – sie tut mir ziemlich leid. Ich sitze im Unterricht neben ihr, da sie die einzige ist, mit der man noch ein normales Gespräch führen kann.
Eine Bewegung vor meinen Augen reißt mich, mal wieder, aus meinen Gedanken und ich erkenne, dass mein Freund mit seiner Hand vor meinen Augen rumfuchtelt. Irritiert sehe ich ihn an, was ihn zum Lachen bringt. Jetzt lacht er mich auch noch aus. Toll gemacht, Annika.
Ich ziehe einen Schmollmund und schaue Ben mit meinem traurigsten Welpenblick an.
„Jetzt schau nicht so traurig", weist er mich an
„Doch, ich bin eine voll schlechte Freundin, nie höre ich dir zu", erzähle ich, tatsächlich etwas enttäuscht von mir selbst. Er erzählt mir etwas, vermutlich was wichtiges und ich höre nicht zu. Ich habe ihn mit keinem Zentimeter verdient.
„Hey, nein. Du bist die tollste Freundin der Welt. Und ich finde das niedlich", sagt er, nimmt mich dabei in den Arm und küsst meine Stirn. Einen Moment bleiben wir so, genießen die Sekunden miteinander, bis der Schulgong zu uns hinausschallt.
„Oh scheiße!", zerstöre ich unser angenehmes Schweigen, schnappe mir die Hand meines Angebeteten und schleife ihn hinter mir her.
„Wieso plötzlich so panisch?", werde ich gefragt. Ich gebe mir die größte Mühe, schnell zu sein, sodass ich schon fast ins Rennen verfalle. Im Gegensatz dazu scheint Ben noch relativ entspannt neben mir herzugehen – er ist immerhin sportlich und hat längere Beine.
„Ich habe jetzt Mathe bei der Andres", erkläre ich ihm. Er sieht plötzlich gequält aus. Kein Wunder. Frau Andres ist eine verdammt gute Lehrerin, keine Frage, aber genauso Streng ist sie auch.
Ich beeile mich, dränge mich durch das Schulgebäude bis vor die Tür, hinter der mein Unterricht stattfindet und vergesse fast, dass ich ja noch meinen Freund im Schlepptau habe, würde er mich nicht festhalten. Durch den plötzlichen Ruck falle ich gegen ihn, woraufhin er wieder lacht. Er ist so fröhlich, was echt bemerkenswert ist, wenn man den Fakt beachtet, dass seine Unterarme von dünnen, feinen Narben geziert sind. Die meisten sind mehr oder weniger unsichtbar. Er hat aufgehört, seit er mit mir zusammen ist und ich bin unfassbar stolz auf ihn.
„Du denkst schon wieder zu viel nach", stellt besagter gerade grinsend fest. Verdammt, ich muss unbedingt etwas gegen dieses scheiß nachdenken tun.
„Tut mir Leid", sage ich und küsse ihn nochmal. „Bis später"
„Bis später."
Mit meinen Blicken durchlöchere ich die Uhr an der Wand über der Tür. Gleich ist es soweit, gleich bricht hier die Hölle aus und hunderte von Schülern stürzen aus den Klassenzimmern, blockieren die Gänge, verstopfen die Türen. Alle mit dem gleichen Ziel: Freiheit. Obwohl, kann man es wirklich als Freiheit betiteln, wenn man genau weiß, dass sich die ganze Thematik Schule täglich und wöchentlich wiederholt bis man irgendwann hoffentlich damit fertig ist? Kann man von Freiheit reden, wenn man jetzt nach Hause geht, stundenlang Hausaufgaben macht, kaum Freizeit übrig bleibt und morgen früh wieder am gleichen Tisch sitzt wie heute?
Freiheit. Will man das überhaupt? Uneingeschränkte Freiheit? Anarchie? Mir macht allein schon der Gedanke an eine Welt ohne Regeln und Ordnung Angst. Jeder kann tun und lassen was er will, doch für welchen Preis? Natürlich will jedes Lebewesen frei sein, doch denkt mal jemand daran, dass der Mensch keine Wahl hat, wenn er seine Art erhalten will? Vielleicht ist das ja auch der Sinn des Lebens – Arterhaltung.
Ein letztes Mal für diesen Montag ertönt der Schulgong, der sich dann doch nach einem Stück Freiheit anhört. Ich klappe mein Buch und meinen Hefter zu und werfe beides, inklusive meiner Federmappe, in meinen Rucksack. Langsam verlasse ich den Raum, ich fühle mich nicht wohl, in der Menschenmasse von Schülern unterzugehen, geschubst und gedrängelt zu werden. Leider kann ich es nicht verhindern. Wie ein Sog zieht es mich rein, werde von der Welle mitgetragen. Es fängt an sich alles zu drehen, ich sehe überall nur noch Menschen und es scheint, wie als würde ich von allen angeschaut werden. Jedes Augenpaar liegt auf mir, alle zeigen mit dem Finger auf mich, lachen, reden. Ich fühle mich unwohl und unsicher. Mir wird plötzlich wieder schlecht, als müsste ich mich übergeben, aber irgendwie doch ganz anders. Dicke Wattewolken legen sich auf meine Ohren, als würde ich plötzlich von der Welt abgeschnitten werden. Alles kribbelt und ich bekomme keine Luft mehr. Ich ersticke. Ich ersticke und alle schauen mir dabei zu. Keiner Hilft mir. Wieso hilft mit niemand? Warum lachen mich alle aus?
Ich muss hier weg, ich muss hier raus, ich muss rennen. So weit bis ich nicht mehr kann, bis ich wo anders bin, ich will nicht hier sein. Warum hilft mir niemand?
Mir steigen Tränen in die Augen. Was passiert hier gerade?
Plötzlich wird mein Oberarm fest umfasst und ich werde beiseite gezogen, raus aus der Strömung in einen Lichthof der Schule. Die Geräusche, die Lachenden Menschen, die mich alle anschauen, entfernen sich, es wird leiser, ruhiger.
Meine Atmung ist schnell, ich versuche, mich zu fassen, aber ich bekomme es nicht hin.
Verdammt, Annika, jetzt reiß dich zusammen!
„Geht's wieder?", ertönt eine Stimme hinter mir. Ich erschrecke mich, obwohl mir hätte klar sein müssen, dass da jemand steht, da ich immerhin gerade, ja, gerettet wurde, und drehe mich um.
„Sorry, wollte dich nicht erschrecken", erklärt mir der junge Mann vor mir. Er ist groß, größer als Ben, hat blond gefärbte, kurze Haare und ein schiefes Grinsen im Gesicht, wobei seine braunen Augen doch eine leichte Besorgnis ausstrahlen.
„Ehm, schon okay. Ja, alles gut", antworte ich und frage mich, ob ich ihn irgendwo her kenne oder ob ich ihn schon mal in meiner Schule gesehen habe. Leider kann ich sein Alter so gar nicht einschätzen.
„Sicher?", fragt er nochmal nach und sieht mich an, wie als hätte er mich gerade von einer Brücke geholt. Mir fällt auf, wie sehr ich immer noch zittere und dass mir immer noch schlecht ist. Ich nicke. Er hält mir seine Hand hin.
„Max."
Ich nehme seine Hand. „Annika."
Er lässt meine Hand wieder los.
„Ziemlich nervig, die ganzen Menschen hier, nicht?", meint er und schaut durch den Gang, wo tatsächlich immer noch Schüler auf dem Weg nach draußen sind.
„Ja, extrem. Ich wünschte, die Schule hätte mehrere Ausgänge."
„Kann ich verstehen, auf meiner Schule gibt es vier Ausgänge und weniger kleine Kinder", er grinst mich an. Aha, er geht also auf eine andere Schule.
„Auf welche Schule gehst du denn?"
„Auf die Berufsschule im Gewerbegebiet. Mein letztes Schuljahr", meint er und klingt dabei tatsächlich sehr stolz.
„Ich habe noch fast drei Jahre vor mir", seufze ich genervt. „Wenn du auf die Berufsschule gehst, warum bist du dann hier?"
„Mein bester Freund geht auf die Schule hier. Eigentlich sollte ich draußen warten, dann hatte ich aber die Hoffnung, dass es hier drin eine Klimaanlage gibt, aber ich wurde stark enttäuscht."
Ich lache, immer noch etwas angespannt. „Wer ist denn dein bester Freund? Vielleicht kenne ich ihn ja."
„Benjamin Riedel.", antwortet er und ich bin irritiert, da Ben nie einen Max erwähnt hat.
„Ach echt? Ben ist mein Freund."
„Aah, du bist die Annika!"
„Ja, genau die bin ich. Ben hat gerade noch bei einer sehr kritischen Lehrerin Unterricht, die überzieht oft noch 10 Minuten. Sein Raum ist hier die Treppe hoch und dann links, N5. Ich muss jetzt leider los, mein Bus kommt gleich."
„Na dann, danke Annika. Wir sehen uns bestimmt irgendwann wieder.", verabschiedet er sich grinsend. Ich lächle zurück.
„Das denke ich auch, Max. Bis irgendwann!", sage ich und gehe auf den Gang, der mittlerweile leer ist, Richtung Ausgang. Ein seltsamer Typ, dieser Max. Irgendwie freundlich, aber seine ganze Art ist anders. Anders als andere Menschen.
„Annika!", höre ich nochmal Max rufen. Ich drehe mich um und Max joggt zu mir. Dann drückt er mir einen Blister mit drei Tabletten in die Hand. Ich hebe eine Augenbraue.
„Nein danke, ich nehme keine Drogen.", antworte ich. Max lacht.
„Das sind keine Drogen. Also, irgendwie schon, aber nicht offiziell. Das sind Beruhigungstabletten. Nimm einfach eine, wenn du das nächste Mal eine Panikattacke hast. Das hilft, wirklich.", versichert er mir.
„Panikattacken? Ich?", beinahe lache ich. Ich hab doch keine Panikattacken, was für eine dämliche Behauptung. Marlene hat ab und zu welche, ich weiß wie die sich äußern, da muss ich kein Arzt sein.
„Glaub mir, du wirst mir noch danken.", meint er, dreht sich um und geht. Ich stehe noch irritiert da, denke über seine Worte nach und verlasse dann das Schulgebäude. An der Bushaltestelle angekommen fällt mir auf, dass ich meinen Bus verpasst habe. In einer halben Stunde kommt der nächste. Ich setze mich auf die Bank und drehe die Tablettenverpackung in meiner Hand. Ich lache kurz auf, als ich über seine Worte nachdenke, um mich selbst vom Gegenteil zu überzeugen, aber so ganz schaffe ich es nicht. Mit dicken Buchstaben bildet sich auf der Rückseite des Medikamentes das Wort „Lorazepam, 1mg" ab. Ich zücke mein Handy, tippe das Wort ein und überfliege ein paar Webseiten. Ich schnappe verschiedene Begriffe auf – „Tavor", „Entspannungsmittel", „Angstzustände", „Psychopharmaka" – und alles geht in die gleiche Richtung. Ich schaue weiter, tippe in die Suchleiste „Panikattacken" ein. Symptome wie Brustschmerzen, Schwindel, Atemnot und Übelkeit", „plötzliche Anfälle starker Angst", „Häufige Vorstellung, in Ohnmacht zu fallen oder zu ersticken".
Ich schalte mein Handy wieder aus und fixiere einen Stein der im Boden eingelassen ist, lasse mich in meinen Gedanken fallen mit dem Versuch, Antworten in mir selbst zu finden.
Hatte ich wirklich eine Panikattacke?

BetonwandWhere stories live. Discover now