Ein Neuanfang

138 12 0
                                    

Sie stand am Fenster und starrte in die verregnete Landschaft. Die Regentropfen klopften leise an die Scheibe und liefen in langen Bahnen die Scheiben herunter. Der Abschied fiel ihr doch schwerer als gedacht, obwohl sie sich nach dem Tod ihrer Mutter alleine in dem Haus nicht mehr richtig wohl gefühlt hatte. Zuviele schlechte Erinnerungen verband sie inzwischen mit diesem Haus, auch wenn sie ihre frühen Kinderjahre hier durchaus als glücklich bezeichnen würde. In den letzten Jahren hatte sie hauptsächlich ihre Mutter gepflegt und ein sehr bescheidenes und zurückgezogenes Leben geführt. Doch die Schatten der Vergangenheit hatten ihre Mutter nach wenigen glücklichen Jahren wieder eingeholt in der Gestalt des Freiherrn von Golem. Er hatte ihre Mutter gegen Willen unter Androhung von Gewalt und ihr kleines Geheimnis zu verraten zu seiner Mätresse gemacht und sie auch anderen Männern zugeführt. Als er ihrer Mutter eines Tages gedroht hatte, auch ihre eigene Tochter als Jungfrau an den Meistbietenden zu versteigern, war sie Hals über Kopf geflohen. Nach einiger Zeit auf der Flucht verschaffte ihnen ein ihr unbekannter Gönner ihrer Mutter dieses kleine Stadthaus als Zuflucht. Doch es war sicherlich nur eine Frage der Zeit, bis der Tyrann sie auch hier wieder aufspüren würde. Diese grosse Angst ihrer Mutter, von dem Freiherrn wieder entdeckt zu werden, hatte sie schließlich auf das Krankenlager geworfen. Selina ahnte, dass nach dem Tod der Mutter seine Gier und Besessenheit, sowie seine abscheuliche Art der Lust nun auf sie übergehen würde. Nein, sie hatte keine Angst. Dennoch war sie froh, nach dem ihre Mutter von ihrem Leid erlöst worden war, diesen Ort hier verlassen zu können.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als es an der Tür klopfte und ein älterer Mann das Zimmer betrat. „Gnädiges Fräulein, es ist soweit. Die letzten Kisten und Koffer sind verpackt, die letzten Möbel werden morgen abgeholt." Sie nickte dem Mann zu: „Danke, Johann." Der Mann verbeugte sich kurz und verließ das Zimmer. Sie sah sich ein letztes Mal in dem leeren Raum um und eilte nach einem leisen Seufzer hinaus. Draußen wartete bereits eine Kutsche auf sie. Als diese sich schließlich in Bewegung setzte, schaute sie hoffnungsvoll nach vorn. Sie würde nun weit weg von der leidvollen Vergangenheit und dem Freiherrn ein neues Leben anfangen können, auch wenn das in bescheidenen Verhältnissen sein würde. Ihre Mutter hatte ihr zwar ein kleine Summe Geldes aufgespart als Notgroschen, doch davon hatte sie die Beerdigung und die Auflösung des Hausstandes bezahlen müssen. Sie suchte ihn ihrer Tasche nach dem Brief, der diesen Neustart ermöglichte. Dort stand, dass sie in Kürze eine Stelle als Gouvernante und Erzieherin der kleinen Tochter eines reichen Geschäftsmannes antreten sollte und dass sie bereits erwartet würde. Man stellte ihr freie Kost und Logie und ein aus ihrer Sicht durchaus großzügiges Gehalt in Aussicht. Sie kannte den Herrn und seine Tochter nicht und sie hatte nur weniges über ihn erfahren. Diese Berichte erschienen ihr etwas verwirrenden. So gab es keine Frau an seiner Seite und auch die Mutter seiner Tochter kannte niemand, was schon ein wenig seltsam anmutete. Sie hatte aber auch erfahren, dass er seine kleine Tochter über alles liebte. Allein dieser Punkt ließ ihn in ihren Augen in einem positiven Licht erscheinen.
Nach 5 Tagen erreichten sie die Küste und zum ersten Mal sah sie das Meer. Sie war sofort fasziniert von diesem unendlich scheinenden Blau des Wassers, welches sich am Horizont mit dem Blau des Himmels zu vereinigen schien. Die Reise ging entlang der Küste durch verträumte kleine Fischerdörfer bis sie nach weiteren drei Tagen dann die Hafenstadt Dunston erreichten. In dem Hafen lagen neben unzähligen Fischerbooten auch mehrere größere Handelsschiffe und es herrschte ein reges Treiben ins um liegenden Straßen und Gassen. Selina war überwältigt von den vielen Eindrücken und kam aus dem Staunen kaum heraus. Doch der Weg führte sie wieder aus der Stadt hinaus und eine Steilküste hinauf, von der man einen herrlich Blick auf die Stadt und den Hafen hatte. Aber vor allem auf das große, weite Meer, von welchem sie bereits jetzt schon tief beeindruckt war.
Ihre Kutsche hielt vor einem hochherrschaftlichen Anwesen in dem man eher einen Grafen als einen Geschäftsmann vermutet hätte. Ein Diener in einer vornehmen Livree öffnete die Tür „Miss Selina Linnard, nehme ich an?" Sie nickte nur und stieg aus der Kutsche aus. „Wenn sie mir bitte folgen wollen. Unser Herr ist in einer dringend Geschäftsangelegenheit unterwegs und wird erst zum Abendessen zurück sein. Sie haben also genug Zeit in Ruhe auszupacken, sich auszuruhen und sich vor dem Essen noch etwas frisch zu machen. Sie haben bestimmt eine anstrengende Reise hinter sich.  Betty zeigt ihnen ihre Zimmer und wird ihnen bei Auspacken helfen." „Das ist sehr freundlich.",murmelt Selina schüchtern und folgte der kleinen schwarzhaarigen Zofe, die sie freundlich anlächelte.

Vertrauen und HoffnungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt