23. Kapitel: "Wir können doch Freunde bleiben, hast du gesagt."

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Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Erst beim Krafttraining heute Morgen habe ich den Kopf freibekommen, doch schon die anschließende heiße Dusche bei mir daheim hat mich zurück in den Wagen der Gefühlsachterbahn geschubst, in der ich noch immer hocke und Loopings fahre, während ich vor dem Eingang zum Studierenden-Center auf Pari warte. Ich kann sehen, wie sie sich drinnen über den Tresen beugt und einem Typen zuhört, der ihr anscheinend erklärt, wie sie irgendein Formular auszufüllen hat. Pari steht auf Zehenspitzen und wirkt aus der Ferne zumindest noch kleiner, als ich ihre zierliche Gestalt in Erinnerung behalten habe. Sie trägt ausschließlich schwarz, von den hochhackigen Stiefeln an ihren Füßen über die kuschligen Wollstrumpfhosen und den Faltenrock bis zu der Fischermütze auf ihrem Kopf. Ihre Haare sind ein Stück gewachsen, sie reichen ihr fast bis unter die Brust und fallen in leichten Naturwellen über ihre Schultern. Allein ihr Anblick löst unendlich viele widersprüchliche Emotionen auf einmal in mir aus, Ärger, Angst, Nervosität; aber da ist auch Anziehung. Unbeschreibliche, unabwendbare, magnetische Anziehung.

Als sie zu mir ins Freie tritt, ist das Erste, was ich registriere, ihr ungeschminktes Gesicht. Ich weiß, dass sie gut darin ist, sich besonders unauffällig zu schminken. Aber das hier ist nicht dezent, es befindet sich wirklich kein einziges Gramm Make Up auf ihrer butterweichen Haut. Sehr ungewöhnlich, zumindest für die Pari, die ich mal kannte und in die ich mich verliebt habe.
„Hey", begrüßt sie mich. Ihre Stimme klingt sanft und so leise, beinah rauscht die Floskel mit dem Wind davon, der heute kühl um die Häuserecken pfeift.
„Hey", erwidere ich und mustere sie von oben bis unten. Meine Hände lasse ich vorsorglich in den Jackentaschen, ich möchte nicht von ihr umarmt werden. Das könnte Dinge hochholen, die ich ihr nicht unbedingt auf dem Präsentierteller servieren will. Pari spürt meine Ablehnung offenbar. Sie vergräbt ihre Hände also ebenfalls ein Stück tiefer in den Taschen ihres kurzen Wintermantels. Das Konversationsgenie vor mir bringt kein Wort über die rosafarbenen Lippen.
„Du lässt dich exmatrikulieren?", leite ich das Gespräch darum ein.
Pari braucht einen Moment, um zu antworten. Sie sieht mir bloß traurig in die Augen, dann blinzelt sie. Die Melancholie ist mit einem Schlag aus ihrem Blick verschwunden. Es wirkt fast, als sei sie aus einer Art Trance erwacht.
„Hm-mh", summt sie eine Bestätigung und hustet, bevor sie fortfährt: „Ich habe mich letzte Woche bei einer Konditorei um einen Ausbildungsplatz beworben, die haben mich sofort genommen."
„Liegt dir bestimmt", gratuliere ich ihr und versuche das Stechen in meiner Herzregion zu ignorieren, während die Erinnerung an den dösigen Vormittag im letzten Sommer an meinem geistigen Auge vorüberzieht. Den Rat, auf eine Ausbildung umzusatteln, habe ich ihr damals gegeben.
„War ein guter Vorschlag von dir", sagt sie vorsichtig. Sie hat diesen Tag genauso glasklar im Gedächtnis behalten wie ich. „Gehen wir eine Runde?", fragt sie. Ich habe mich in Schweigen gehüllt, ohne es zu bemerken. Mit einem knappen Nicken deute ich eine schmale Allee für Fußgänger und Radfahrer hinunter und setze mich in Bewegung. Pari hält mit mir Schritt. Aus dem Augenwinkel beobachtet sie jede winzige Regung in meiner Miene, bis sie genug Mut zusammengekratzt hat, um das Gespräch fortzusetzen. Ich schätze ihre Bemühungen auf jeden Fall, das ist für sie auch nicht leichter als für mich.
„Hast du meinen Brief bekommen?"

Dieser Brief.

„Ich weiß noch immer nicht, was ich davon halten soll", konfrontiere ich sie mit der Wahrheit und Pari senkt den Blick auf ihre Schuhspitzen.
„Alles, was ich darin gesagt habe, ist zu hundert Prozent ernstgemeint."
Statt sie anzuschauen, taxiere ich angestrengt den Weg, der vor uns liegt. Schotter, kilometerweit.
„Hier ist so viel passiert, während du weg warst, du hast ja keine Ahnung", meine ich schlussendlich.
Pari atmet ein.
„Iara hat mir gegenüber schon Andeutungen gemacht, dass dich etwas belastet. Sie hat aber zugemacht, als ich nachgehakt habe."
„Darf ich dich was fragen?", weiche ich ihr aus.
„Alles."
Ich sehe ihr in die braunen Augen und meine inneren Organe ziehen sich dabei zusammen.
„Willst du noch immer mit mir befreundet sein?", presse ich Wort für Wort angestrengt aus mir heraus.
Pari verlangsamt ihre Schritte und bleibt schließlich stehen. Ich stoppe ebenfalls. Sie sieht mich an, mit demselben traurigen Ausdruck in ihren Kaminfeuer-Augen wie vorhin.
„Nein", haucht sie. „Ich empfinde zu viel für dich; ich könnte nicht mit dir befreundet sein." Ihre Unterlippe beginnt zu zittern und weißer Dampf steigt vor ihrem Mund auf, als sie bemüht ruhig ausatmet. „Frühstens in ein paar Jahren", fügt sie noch hinzu und ihre Stimme bricht mitten im Satz.
„Fühlst du das?", frage ich sie und kann nicht verhindern, dass auch meine Stimme nachgibt. „Fühlst du, wie sehr es wehtut?", präzisiere ich meine Frage und Pari senkt die Lider. „Drei Monate gehst du weg und drei Monate fühle ich in einer Tour nur das; jede Woche, jeden Tag, jede Stunde, Minute, Sekunde", zähle ich auf.

Escape the FriendzoneWhere stories live. Discover now