4. Erinnerungen

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2017

Der Wind zerrte an meiner Kleidung.

Ein dünnes Hemd. Kurze Hose. Und nie wieder würde sie jemand tragen.

Ich blickte geradeaus.

Das Meer. Groß. Machtvoll. Und vermutlich das Letzte was ich sehen würde. Es war besser so. Für mich, sowie alle anderen.

Noch vor einem Jahr wären mir bei solchen Gedanken Tränen über mein Gesicht gelaufen.
Aber nicht jetzt. Jetzt war es zu spät. Ich fühlte nicht mehr. Nie mehr.

Ich trat auf das breite, steinerne Brückengeländer zu. Kurz sah ich mich um. Keiner beobachtete mich. Keiner kümmerte sich um mich.

Beihnahe enttäuscht wandte ich meinen Blick ab. Nein! So darfst du nicht denken! Es ist besser so! Jetzt nur nicht zögern.

Ich kletterte auf die Balustrade. Halb hoffte ich jemand würde mich aufhalten, doch ich hatte mich geirrt.

Warum zögerte ich? Verdammt! 'Beeil dich', schrie ich mich in Gedanken selber an.

Ich richtete mich auf.
Schloss die Augen.
Ich breitete die Arme aus.
Und machte den endgültigen Schritt nach vorne.

Ich wurde zurückgerissen. Jemand umklammerte mich. Ich fing an zu schreien. Erst leise, dann immer lauter.

Die Finger die mich hielten, gruben sich in meine Arme. Plötzlich wurde ich mich der Berührung bewusst. Ich wand mich, fing an zu zittern, zu verkrampfen. Die Person ließ mich erschrocken los.

Mein Schrei erstickte. Stattdessen fing ich an zu wimmern.

Nun lag ich schwer atmend auf dem Boden.
Neben mir saß eine männliche Person. Ich traute mich kaum aufzublicken.

Ich war doch so vorsichtig gewesen. Da hatte ich wieder einmal den Beweis. Ich war wieder einmal nicht gut genug.

"Warum?", fragte mein Retter.

"Es gibt kein Warum", erwiderte ich mit meiner natürlichen Stimme, während ich in den Himmel starrte. Wolken. Wunderschöne Gebilde der Natur. Sie strahlten Freiheit aus. Das, wonach ich mich sehnte.

"Wie meinst du das?", kam es schockiert von links. Ob jetzt wegen meiner unerwartet tiefen Stimme oder der Tatsache, dass er mich von einem Suizidversuch abgehalten hatte, wusste ich nicht.

"Wie ich es gesagt habe."

"Aber, warum? Du bist so viel wert!"

"Nein. Ich bin ein Versager. Schau mich doch an!"

"Das stimmt nicht. Du bist wertvoll. Es gibt einen Menschen, dem du wichtig bist."

"Wohl nicht wichtig genug." Ich zog meine Hose ein Stück über den Knöchel, bis zur Mitte meiner Wade. Blutige Striemen wurden sichtbar.

Er sog scharf die Luft ein: "Was ist das?"

"Was denkst du denn?", fragte ich, mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen, nach, "Ich war 11 als es anfing. Ich werde wohl am besten wissen, was und wie viel ich wert bin."

"Aber... warum?!"

"Du fragst sehr viel. Kein 'warum' sondern 'wann'. Wann darf ich endlich aufgeben? Wann bin ich glücklich? Wann werde ich erlöst sein?"

"Aber wieso ritzt du dich?"

"Weil es mein einziger Ausweg ist."

"Das stimmt nicht. Es gibt immer eine andere Lösung."

"Du verstehst nicht", seufzte ich, "Wenn man mit Ihm in einem Haushalt wohnt, dann kann man nicht anders. Er schlägt mich, hat 7 Knochenbrüche verursacht, mehrere Prellungen und Stauchungen, blaue Flecken sind unzählbar geworden, 3 Gehirnerschütterung und 4 mal den Beinahetod. Kannst du mich jetzt verstehen?"

"Es muss doch einen Ausweg geben!" Mein Gesprächspartner wirkte verzweifelt.

Ein einzelner Satz, ein schmaler Gedanke, nahm Form an, bahnte sich seinen Weg in mein Bewusstsein: "Aber warum interessiert dich das? Seit 3 Jahren hat sich nur eine einzige Person um mich gekümmert."

Während ich den Himmel und seine kleinen Freunde weiterhin beobachtete, sah er mir mitfühlend ins Gesicht. Das war das, was ich nicht gebrauchen konnte.

Mit einem Lächeln reichte er mir seine Hand: "Tomson."

Heule mit den WölfenWhere stories live. Discover now