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3. Prs. POV.

Dunkles Blut lief über seinen Arm, bis zu seinen Fingerspitzen und tropfte dort in das Waschbecken. Für einen Moment konnte der Teenager all seine Sorgen vergessen und musste sich nur auf den Schmerz in seinem Unterarm konzentrieren. Doch er wusste, in ein paar Minuten würden sie alle zurück kommen. Die Ängste, die Selbstzweifel, der Ekel........

Noch ein Schnitt.....

Und ein weiterer schmückte seinen narbengeprägten Arm. Weiteres Blut tropfte auf das weiße Keramik des Waschbeckens, rann in dünnen Rinnsälen in die Mitte, vermischte sich dabei mit kleinen Wassertröpfchen, welche das Rot immer heller werden ließen, bis es irgendwann an dem kleinen Loch ankam und in den Abfluss floss.

Der Teenager wusste, dass es nicht richtig war, was er tat. Dass es andere Wege gab, mit seinem Schmerz fertig zu werden. Dass er mit seinen Eltern reden oder zu einem Psychologen gehen sollte, um es zu verarbeiten. Das, was vor zwei Jahren geschah. Das, was ihn dazu bracht, dies zu tun. Doch er schaffte es nicht. Zu groß war der Scham und der Ekel. Ekel vor sich selbst. Vor seinem vernarbten Körper. Er wusste, er konnte niemandem die Schuld an allem geben. Er allein war dafür verantwortlich. Trotzdem tat er es immer wieder. Nur, um für fünf Minuten befreit zu sein. Befreit von allem. Befreit von Schmerz, Angst und Ekel. Einfach frei....

Ein Klingeln ertönte. Erschrocken zuckte er zusammen. Schnell zog er seinen Hoddie über den immernoch blutenden Arm und lief schnell die Treppen nach unten. Vor der Tür blieb er stehen, holte tief Luft, setzte sein strahlendes Lächeln auf und öffnete die Tür. Vor ihm stand ein junger Herr mit einem Paket.

"Hallo. Das ist für euch." meinte der Postbote und stelle es auf den Boden.

"Ihr seid neu hier, oder? Ich teile hier öfter Briefe aus und habe euch noch nie gesehen."

"Ja, richtig. Wir sind vorgestern von Tokio her gezogen." erklärte der Teenager.

"Aus Tokio, hm? Dann muss es eine ganzschöne Umstellung sein. Von der Hauptstadt in so ein verschlafenes Örtchen zu ziehen ist nicht leicht und das mitten im Schuljahr."

Er lachte.

"Ein bisschen schon. Aber ich werde mich bestimmt eingewöhnen."

"Bestimmt. Aber ich muss dann weiter! Wir sehen uns bestimmt noch."

Der junge Mann stieg in sein Auto, winkte kurz und fuhr dann weiter. Er trug das Paket nach drinnen. Dabei rieb sein Hoddie an seinem Unterarm, was ihn schmerzhaft aufkeuchen ließ. Zum Glück waren seine Eltern und seine Schwester nicht zu Hause. Es war Freitag und seine kleine Schwester Natsu war in der Schule, während seine Eltern beide arbeiteten. Seine Schule begann erst am Montag. Schnell lief er nach oben in das Bad und krempelte den inzwischen blutgetränkten Ärmel nach oben. Glücklicherweise war der Hoddie auch dunkelrot, wodurch es fast nicht auffiel.

Mit schmerzverzogenem Gesicht desinfizierte der Junge die Wunde und verband sie. Danach schmiss er seinen Hoddie zu der anderen Wäsche in die Waschmaschine, welche er anstellte. Dann zog er sich einen neuen an. Genau in dem Moment hörte er unten die Tür öffnen sowie Stimmen. Er ging nach unten und wurde sofort von seiner Schwester umarmt.

"Shoyoooooo!"

Ihr großer Bruder lächelte und strich ihr über den Kopf.

"Na? Wie ist es in der neuen Schule?"

"Toll!" grinste die Zehnjährige.

"Ich hoffe, du hast dich nicht zu sehr gelangweilt. So allein zu Hause." lächelte seine Mutter.

"Nein, nein. Alles gut."

Wie immer strahlte er dieses Fakelächeln und wie immer lächelte seine Mutter ehrlich zurück, bevor sie in die Küche ging.

"Habt ihr besondere Wünsche zum Abendessen?"

"Katsudooon!" schrie Natsu und lief in die Küche.

Der Fünfzehnjährige schüttelte den Kopf über die Energie seiner kleinen Schwester, bevor er sich ebenfalls zu den beiden begab.

"Nagut. Dann gibt es heute Katsudon zum Abendessen."

-

Der Orangehaarige lag wach in seinem Bett und starrte an die Decke. Fünf Uhr.... In spätestens zwei Stunden würde Natsu in sein Zimmer rennen und ihn 'wach' knuddeln. Er hatte rein gar nichts dagegen einzuwenden. Wäre da nur nicht dieser Körperkontakt.....in einem Bett...

Körperkontakt in einem Bett.....

Das Schlimmste, was es für den Fünfzehnjährigen gab. Es musste sich jedes Mal Mühe geben, nicht panisch los zu schreien und um sich zu schlagen, denn das würde nur unnötige Fragen aufwerfen. Früher hatte er auch nichts dagegen. Damals fand er es eher beruhigend mit Natsu in einem Bett zu liegen und zu kuscheln. Doch nach dem, was vor zwei Jahren passierte, war es der reinste Albtraum. Kalte Hände auf seinem Körper brachten ihn fast um den Verstand und das nicht im positiven Sinne. Auch sonst war es der blanke Horror von anderen Menschen angefasst zu werden. Von Fremden gleichermaßen wie von Bekannten. Doch er spielte weiter den Jungen, den alle kannten und kennen sollten. Den fröhlichen, volleyballfanatischen, glücklichen und aufgewecktem Jungen, welcher vor zwei Jahren gestorben war. Welchen er versuchte aufrecht zu erhalten. Doch wie lange würde das noch gut gehen?

"Aufwacheeeeen!" weckte ihn Natsus Stimme.

Er musste wohl wieder eingenickt sein. Seine kleine Schwester presste ihren Körper an seinen und schlang ihre Arme um seine Brust. Sofort fingen die Hände des Teenagers an zu zittern und Angst machte sich in ihm breit. Angst vor dem, was passieren könnte, wenn er jetzt auch nur eine falsche Bewegung machte. Es war seine Schwester, das wusste er. Aber vor sich sah er das dreckige Grinsen von ihm.

"G-guten Morgen, Natsu!" stammelte er.

"Guten Morgen, Brüderchen. Du sollst aufstehen! Mama hat gesagt, wir sollen zum Bäcker gehen und Brötchen holen." informierte sie ihn.

Er nickte, setzte sich auf und gähnte. Die Kleinere ließ ihn los, was ihn erleichtert aufseufzen ließ.

"Ich bin sofort unten." meinte er und sofort stürmte sie nach draußen.

Er schloss die Tür, welche sie offen gelassen hatte und stellte sich vor den Spiegel, welcher in seinem Zimmer stand. Vorsichtig zog er sich das langärmliche Tshirt über den Kopf. Sofort kamen die hässlichen Narben zum Vorschein, welche er so verabscheute. Sie zierten seinen ganzen Körper. Von den Armen, über Schultern und Brust bist zum Bauch. Auch am Rücken hatte er sich einige Male geritzt. Seine Hand fuhr über seine Brust und blieb etwa in der Mitte stehen. Dies war seine allerserste Narbe. Sie war sehr fein, da er nicht sehr tief hinein geschnitten hatte. Doch sie erinnerte ihn immer daran, wie verzweifelt er war.

Eklig, war sein einziger Gedanke.

Schnell zog er sich den Hoddie von gestern an und ging nach unten.

Fortsetzung folgt

Vertrau mir! |Kagehina|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt