Kapitel 30

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J E T Z T
J U N I

Als ich am nächsten Morgen noch vor dem Klingeln meines Weckers aufwachte, brauchte es eine Weile, bis ich realisierte, dass der gestrige Tag kein Traum gewesen war, sondern er tatsächlich passiert ist.
Es war, als würde ich Alinas Lippen noch immer an meinem Mund spüren, ihre Hände an meiner Wange und ihre Finger, wie sie sanft und doch bestimmend meine Taille umklammerten. Ich ließ es zu, dass ich mich in Tagträumen verlor und die Szenen des gestrigen Abends immer wieder vor meinem inneren Auge ablaufen ließ. Doch umso länger ich darüber nachdachte, umso größer wurde auch die Angst. Was, wenn Alina ihre Meinung geändert hatte? Eben doch nicht "alles okay" war? Mein Gedankengang wurde durch das Klingeln meines Weckers unterbrochen, der mir nun signalisierte, dass ich langsam doch in Gang kommen musste. Spätestens, als ich aufstand, spürte ich das dumpfe Ziehen in jeder einzelnen Muskelfaser meines Körpers. Von meinem Knöchel, den ich über Nacht vom Verband befreit hatte, mal ganz zu schweigen. Der gestrige Tag steckte mir also noch gehörig in den Knochen und ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass ich die Treppenstufen ohne Komplikationen würde bezwingen können. Doch heute musste ich wohl oder übel in die Schule. Immerhin war Freitag einer der Tage, an dem ich kein Sport hatte. War das für mich sonst eher Grund für Trübsal, war ich heute ausnahmsweise dankbar. Wer setzt einen schulweiten Sponsorenlauf bitte für einen Donnerstag an?
Ich schnappte mir mein Handy von der Kommode und überflog kurz die eingegangenen Nachrichten, bevor ich gen Badezimmer lief. Doch mein Muskelkater brachte mich schnell zurück auf den Boden der Tatsachen, schnell und grazil würde ich heute wahrscheinlich nirgendwo hingehen. Das gestern hatte mein gewöhnliches Training wohl doch deutlich an Intensität überstiegen.
Während des Zähneputzens machte ich bewusst einen großen Bogen um jedes Lied in meiner Playlist, das mich auch nur im entferntesten an Alina erinnerte. In meiner ausgedünnten Auswahl blieb ich irgendwann bei Verrückt von JEREMIAS hängen und ich drehte die Lautstärke ein bisschen höher als sonst, um meine langsam aber sicher kreisenden Gedanken auszusperren.

Ich war froh, dass meine Eltern bereits aus dem Haus waren, als ich in die Küche kam um mir kurz einen Kaffee zu machen. Mein Vater war wie immer schon auf dem Weg ins Büro und meine Mutter gehörte zu den wenigen Menschen, die trotz freier Zeiteinteilung Wert darauf legten, zu gottlosen Uhrzeiten den Supermarkt für den Wocheneinkauf zu stürmen. Doch das war einer der Vorteile daran, dass ich freitags erst später in die Schule musste: Die Ruhe im Haus.
Lediglich Coco hob in einem Anflug von Interesse ihren Kopf und wedelte ein, zwei Mal mit dem Schwanz, bevor sie in ihrem Korb weiterdöste. Auch von meinen überschwänglichen Versuchen, sie vielleicht doch zu einer kurzen Schmuserunde aus dem Korb zu locken, zeigte sie sich äußerst unbeeindruckt. Spätestens für ihre ausgiebige Mittagsrunde würde Mama wieder da sein, uns war es allen wichtig, dass unser Hund nicht zu lange alleine war und regelmäßig spazieren gehen konnte.
Mein Kaffee hatte es endlich in den To-Go Becher geschafft und während ich einen kurzen Kontrollblick auf die Uhr warf, widmete ich mich meinem Knöchel. Ich hatte in einer meiner Schubladen noch eine Bandage gefunden, somit sparte ich mir das Verbinden und musste nur schauen, dass ich mich irgendwie hineinzwängen konnte. Alina hatte gestern wirklich tolle Arbeit geleistet, der Verband hielt, ohne zu verrutschen und erfüllte seinen Zweck voll und ganz. Die Schwellung war bereits deutlich zurückgegangen, doch an die leicht blaue Verfärbung würde ich mich in den nächsten Tagen wohl gewöhnen müssen. Als ich einige Testschritte machte und meine Bandagierung anschließend für gut befand, hob Coco doch noch einmal kurz interessiert den Kopf, verlor das Interesse jedoch schnell wieder, als ich in einem Affenzahn zur Tür hechtete, um meinen Bus noch zu erwischen.

"Hast du keinen Muskelkater?", fragte ich Anna überrascht, als sie mir an der Bushaltestelle regelrecht entgegenhüpfte. "Nein", erwiderte meine beste Freundin, als sie mich in eine Umarmung zog, "Aber ich habe auch nicht wirklich etwas gemacht, was zu Muskelkater hätte führen können." Damit grinste sie verschmitzt und erkundigte sich noch nach meinem Knöchel, bevor wir - leicht ausgebremst durch mich - in die Schule gingen.
Irgendwann im Laufe des Vormittags hörte ich auf zu zählen, wie häufig ich aufgrund meiner Unaufmerksamkeit ermahnt wurde. Meine Gedanken schienen an Alina zu kleben, wie die Kaugummis an der Unterseite unserer Schultische und so sehr ich mich auch bemühte, dem Unterricht zu folgen, ich fand mich immer wieder bei Alina wieder. Mit Anspannung wartete ich darauf, dass der Zeiger der Uhr endlich das Ende des Schultages signalisierte, doch mit jedem Mal, mit dem mein Blick die Uhr an der Wand streifte, schien der Zeiger sich eher noch rückwärts zu bewegen. Anna wurde langsam stutzig, ein solches Verhalten hatte ich bis jetzt noch nie an den Tag gelegt. Ich servierte ihr eine Notlüge über meinen nun doch schmerzenden Knöchel und als mich ihr verständnisvoller Blick traf, brachte er das schlechte Gewissen mit sich. Was tue ich hier? Ich log meine beste Freundin an, während ich Alina geradewegs in den Abgrund beförderte. Alleine dieser eine Kuss reichte, um sie hinter Gitter und für immer aus dem Lehrerberuf zu befördern. Erneut flammte in mir der innige Wunsch auf, Alina zu beschützen. Koste es, was es wolle - auch, wenn das bedeuten würde, sie nie wieder zu küssen. Andererseits erinnerte ich mich daran, wie verletzt und vor den Kopf gestoßen ich war, als Alina mir genau diese Entscheidung abnehmen wollte. Aus genau diesem Grund sollte ich es eigentlich besser wissen und ihr zugestehen, diese Entscheidung selber für sich treffen zu dürfen. Doch ich wusste, dass ich es nie mit meinem Gewissen würde vereinbaren können, wenn ich wusste, dass ich Alina direkt in ihr Unheil habe laufen lassen.
"Kommst du?"
Verwirrt schaute ich zur Uhr, da Anna unmöglich meinen konnte, dass der Unterricht beendet war. "Partnerarbeit, wir gehen raus", schob sie wahrscheinlich aufgrund meines Gesichtsausdrucks hinterher. Ich sammelte stumm meinen Block und einen Kuli ein und folgte Anna erst auf den Gang und dann auf den Schulhof auf eine der Bänke unter der großen Eiche.
"Und jetzt", meinte Anna mit hochgezogener Augenbraue, noch bevor mein Hintern das Holz berührte, "Erzählst du mir, was mit dir los ist." - "Ich bin einfach ziemlich k.o.", meinte ich wahrheitsgemäß, "Der Knöchel hat mich kaum schlafen lassen." Auch wenn der letzte Teil meiner Aussage gelogen war - ich konnte Anna ja schlecht auftischen, wer meine Gedanken so für sich einnahm. "Wenn ich es nicht besser wissen würde, würde ich sagen, dass es eher jemand ist, der für deinen Zustand verantwortlich ist."
Treffer versenkt, dachte ich und verfluchte mich selber, meine beste Freundin so unterschätzt zu haben. Sie hatte schon immer sehr gute Antennen für die Gefühle und den Gemütszustand anderer. Und sie kannte mich besser, als jeder andere Mensch, der nicht zu meiner Familie gehörte. "Glaub mir, ich bin einfach müde", antwortete ich daraufhin, weil ich sie nicht weiter belügen und abstreiten wollte, dass es wirklich jemand war, der mir so durch den Kopf geisterte. "Du würdest es mir sagen, wenn du Redebedarf hättest, oder?", fragte Anna mit eindringlichem Blick. Sie hatte diese Gradwanderung zwischen Sorge und genug Freiraum schon immer sehr gut gemeistert. Ich wusste, dass ich mich immer an sie wenden konnte und doch wusste sie, dass ich zu ihr kommen würde, wenn ich sie brauchte. So war es zwischen uns schon immer: Wir wussten, dass wir uns immer aufeinander verlassen konnten - auch, ohne es jedes Mal wieder neu sagen zu müssen.
"Klar, Anna. Und ich bin dir wirklich sehr dankbar dafür." Anna nickte ein Mal, bevor sie wieder zur Projektleiterin wurde und einen genauen Plan aufstellte, wer von uns welchen Teil bearbeiten würde. Es tat mir gut, jetzt wirklich etwas tun zu müssen, denn so konnte ich mich gut ablenken. Und Anna gab ein ordentliches Tempo vor, was endlich dafür sorgte, dass ich mich voll und ganz auf die Aufgaben vor mir konzentrierte.

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⏰ Last updated: Jul 12, 2023 ⏰

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I Need You To Hate Me || girlxgirlWhere stories live. Discover now